Buchtipp des Monats von Rüdiger Frank
| 12. November 2014Der Nordkorea-Experte Rüdiger Frank erklärt im Interview u.a. warum Nordkorea mit einem viel gebrauchten, mehrfach lackierten Gegenstand mit Schrammen verglichen werden kann. Auch einen sehr persönlichen Buchtipp hat der Vorstand des Instituts für Ostasienwissenschaften für unsere LeserInnen.
uni:view: Kürzlich ist Ihre Publikation "Nordkorea: Innenansichten eines totalen Staates" erschienen. Welche Ansichten erwarten die LeserInnen über den hermetisch abgeriegelten Staat?
Rüdiger Frank: Auf 432 Seiten ist viel Platz für verschiedene Ansätze und Themen. Mir war es jedenfalls wichtig, ein lesbares Buch zu schreiben. Offengestanden ist dies das erste Buch, das ich einmal nicht für meine lieben Kollegen verfasst habe. So ganz kann ich meine Identität als Wissenschafter zwar nicht verbergen; man findet daher einiges an theoretischen Überlegungen und natürlich die nötigen Nachweise zu Zahlen und Zitaten. Aber ich habe bewusst die Ich-Form gewählt, um zu zeigen, dass sehr viel von meinen persönlichen Erfahrungen und Ansichten in dieses Buch eingeflossen ist. Wo es geht, habe ich allgemeinere Aussagen mit konkreten Erlebnissen und Anekdoten ergänzt, um das Ganze lebendiger und greifbarer zu machen. Da ich in der DDR und der Sowjetunion aufgewachsen bin, konnte ich auch an vielen Stellen meine sozialistischen Erfahrungen einbringen.
Allerdings wehre ich mich vor allem im Kapitel zur Wiedervereinigung sehr vehement gegen allzu platte Vergleiche. Es kommt auf die Abstraktionsebene an. Nordkorea ist in vielerlei Hinsicht typisch staatssozialistisch, doch in noch viel mehr Aspekten sehr eigen. Dabei ist das Land aber durchaus verstehbar, wenn man sich die Mühe macht, etwas tiefer zu graben und die eigenen ideologischen Scheuklappen abzulegen. Verstehen heißt übrigens nicht Zustimmung.
Wenn man sich Nordkorea bildlich vorstellen will, dann vielleicht als eine Art viel gebrauchten, mehrfach lackierten Gegenstand mit einer großen Zahl an Schrammen und Kratzern. Mal geht ein Kratzer richtig tief, mal sind die älteren Lackschichten freigelegt, und manchmal sieht man auch nur die neueste, oberste Farbschicht. Alles in allem ergibt sich eine komplexe, bunte, unebene, schwer monokausal erklärbare Oberfläche. Ich beginne daher mit einem Kapitel über die historischen Wurzeln, sozusagen die Grundierung des heutigen Nordkorea. Es folgt die nächste Lackschicht, die japanische Kolonialzeit von 1910 bis 1945, die beide Teile Koreas ganz erheblich geprägt hat. Nach 1945 haben zunächst die Sowjetunion und China, danach Kim Il-sung selbst das Antlitz Nordkoreas gestaltet.
Ich widme mich dann in den folgenden Kapiteln dem, was all diese Einflüsse im Einzelnen zur Folge hatten: der Ideologie, die das Land trotz schwerster Krisen vor der Implosion bewahrt hat; dem politischen System, in dem die Führer eine besondere Rolle spielen; und natürlich in mehreren Kapiteln der Wirtschaft, meinem Spezialgebiet. Hier haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten erhebliche Veränderungen vollzogen, die unter dem gegenwärtigen Führer Kim Jong-un fortgesetzt werden. Angesichts der enormen Probleme, denken wir nur an Nahrungsmittelknappheit, die Frage der Menschenrechte und Atomwaffen, sind solche positiven Veränderungen enorm wichtig. Dem gegenüber stehen die Sicherheitsbedenken der Nachbarn, die internationalen Sanktionen, und das noch ausstehende echte Reformbekenntnis der Führung Nordkoreas. Dabei ist das Potential enorm. Wussten Sie zum Beispiel, dass 2013 ein westliches Unternehmen in Nordkorea Seltene Erden gefunden hat, und zwar die doppelte Menge der bis dahin weltweit bekannten Lagerstätten?
uni:view: Sie sind der Nordkorea-Experte in Österreich. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Beziehung – so man überhaupt von "Beziehung" sprechen kann –Europa-Nordkorea ein?
Frank: Bis Anfang der 1990er Jahre war Nordkorea kaum auf westlichen Radarschirmen vorhanden. Dann kam der erste Atomstreit 1993/94, gefolgt von einer Hungersnot 1995-1997. Das hat viel verändert. 2001 haben fast alle Mitgliedsstaaten und auch die EU selbst diplomatische Beziehungen mit Nordkorea aufgenommen. Es bahnte sich eine dynamische Beziehung an, die Ende 2002 aber mit dem zweiten Atomstreit ihr abruptes vorläufiges Ende gefunden hat. Heute ist es so, dass in Brüssel und den europäischen Hauptstädten zwar Interesse vorhanden ist, aber kein Mut, sich an dieses heiße Eisen zu wagen. Es lohnt sich nicht, wegen dieses schwierigen potentiellen Partners die etablierten Beziehungen zu den USA und Südkorea aufs Spiel zu setzen. Also beschränkt man sich auf politisch risikofreie Themen, etwa die Menschenrechtsfrage, und kümmert sich inzwischen um andere Dinge. Der Balkan und der Nahe und Mittlere Osten sind Europa derzeit wichtiger. So zynisch das klingt: Ohne die atomare Aufrüstung hätten wir Nordkorea längst vergessen. Nordkorea seinerseits versucht verzweifelt, Europa zu mehr Kooperation zu bewegen, da sich Pyongyang ein Gegengewicht zum erdrückend dominanten China erhofft. Da spielt die EU aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht mit.
uni:view: Schon seit Jahrzehnten hält sich Nordkorea als totalitärer Staat. Wie sehen Sie die Zukunft?
Frank: Als Vice Chairman des Global Agenda Council on Korea des World Economic Forum arbeite ich mit meinen Kollegen daran, Nordkorea aus seiner Isolation herauszuholen und zu einem verantwortungsbewussten Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu machen. Die Menschen dort haben es verdient, und zumindest Teile der Führung sind auch dazu bereit. Das Land könnte so wohlhabend sein, wenn es nur die richtigen politischen Entscheidungen träfe. Allerdings muss man auch einsehen, dass die bestehende politische Führung keine Neigung hat, sich selbst abzuschaffen. Das Schreckensszenario heißt Osteuropa, die Hoffnung leitet sich vom chinesischen Weg ab.
Ist Kim Jong-un ein koreanischer Gorbatschow, dessen Reformen das Land politisch zerreißen, oder ein koreanischer Deng Xiaoping, dem die Quadratur des Kreises gelingt? Noch ist er keines von beiden. Er ist, so wie viele seiner Vorgänger im Ostblock, vorerst dabei, das Land im Rahmen des bestehenden Systems zu optimieren. Dem sind natürliche Grenzen gesetzt. Wenn er diese erreicht, wird es interessant: Hat er den Mut, den Schritt zur echten Reform zu gehen, oder wird er sich zurückziehen und einigeln? Von dieser Entscheidung hängt die Zukunft Koreas ab. Ich traue Kim Jong-un auf Basis seiner bisherigen Handlungen den Reformer durchaus zu. Nicht zu vergessen ist, dass sich im Land seit einigen Jahren eine Mittelschicht herausbildet, die bezüglich außenpolitischer Abenteuer konservativ und bezüglich wirtschaftlicher Öffnung progressiv ist. Hier entsteht ein wichtiger innenpolitischer Faktor, der im positiven Sinne entscheidend sein könnte.
GEWINNSPIEL |
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uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Frank: Ich stöbere noch immer mit Begeisterung in Daniel Kahnemans "Schnelles Denken, Langsames Denken". Das Buch ist von einer bemerkenswerten Lesbarkeit, trotz des vergleichsweise schweren Inhalts. Meine Empfehlung ist aber eine andere. Ich habe kürzlich einmal wieder Jana Hensels "Zonenkinder" gelesen. Jahrelang habe ich mich dagegen gewehrt, dieses Buch über die Wende in der DDR überhaupt anzurühren. Was sollte eine damals Dreizehnjährige schon beizutragen haben? Ich vermutete naives Gerede aus zweiter Hand und den Versuch, auf billige Art Geld zu verdienen. Aus irgendeinem Grund habe ich mich dann doch überwunden und es nicht bereut. Kein einziges meiner dummen Vorurteile hat sich bewahrheitet. Ein kluges, gut geschriebenes, aber vor allem inhaltlich enorm wichtiges Buch – Pflichtlektüre für alle, die sich für die deutsche Vereinigung und die Auswirkung solcher rapider gesellschaftlicher Transformationen interessieren.
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Frank: Nur acht Jahre Altersunterschied haben bei uns völlig andere Sichtweisen der gleichen Ereignisse geschaffen. Dabei stammen Frau Hensel und ich sogar aus der gleichen Stadt, Leipzig. Das Buch hat mir geholfen zu verstehen, dass es je nach Altersgruppe und anderen sozialen Zugehörigkeiten zu sehr verschiedenen Erfahrungen und dann eben auch Interpretationen kommen kann. Um historische Ereignisse in ihrer ganzen Breite verstehen zu können, muss man auch dieser Tatsache Rechnung tragen. Viele Dinge konnte ich nachvollziehen, wenngleich sie mich nicht ganz so hart getroffen haben. Dazu gehört etwa die Erfahrung, wie ganz plötzlich eben noch über jeden Zweifel erhabene Vorbilder auf einmal hilflos und unwissend, ja nutzlos wirkten. Zugegeben, jeder Mensch durchläuft einen solchen Prozess der Abnabelung von den Eltern und Mentoren. Aber Jana Hensel und ihre Generation haben diese Einsicht auf extremste Weise und viel zu früh gewonnen. Das war mir vorher so nicht bewusst.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Frank: Ein Chaos aus verschiedenen Gefühlen und Gedanken. Respekt vor all jenen, die diesen abrupten Wandel bewältigen mussten und es geschafft haben, jeder auf seine Art. Traurigkeit wegen der verpassten Chancen und wegen der vielen Menschen, die dabei auf der Strecke geblieben sind. Tiefe Dankbarkeit wegen des riesigen Glücks, das ich selbst hatte. Und eine gewisse Demut, was den offenkundig hoffnungslosen Versuch angeht, ganze Gesellschaften mithilfe einfacher linearer Modelle verstehen und erklären zu wollen.