Buchtipp des Monats von Peer Vries
| 04. April 2014Der Wirtschaftshistoriker Peer Vries beschäftigt sich in seiner jüngsten Publikation "Escaping Poverty" mit Wohlstand, Armut und Nationen. Im Interview erzählt er über modernes Wachstum und warum er privat gerne über böse Menschen liest. uni:view verlost drei Buchpakete zum Thema.
uni:view: In Ihrer jüngsten Publikation "Escaping poverty" beschäftigen Sie sich mit dem globalen Thema Armut. Ein Thema zu dem schon viel geforscht und geschrieben wurde. Welchen neuen Ansatz wählen Sie?
Peer Vries: "Escaping poverty" behandelt die Königsfrage der Wirtschaftsgeschichte, jene über Wohlstand und Armut der Nationen. Kaum ein Wirtschaftshistoriker wird sich nicht für diese Frage interessieren. Außerdem versteht sich mein Buch ausdrücklich als Versuch, Brücken zwischen Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsgeschichte und Globalgeschichte zu schlagen. Historiker neigen zu 'großen Erzählungen', in denen Kultur, Kapitalismus oder Kolonialismus oft als Haupterklärung für das Entstehen modernen Wirtschaftswachstums herhalten müssen. Derartige Erzählungen sind meist weder überprüf- noch vergleichbar. Wirtschaftswissenschafter hingegen sind Meister im Konstruieren abstrakter Modelle und allgemeiner Theorien. Diese sind allerdings meistens zu abstrakt und zu verallgemeinernd und sagen kaum etwas über konkrete historische Phänomene aus.
In meinem Buch kombiniere ich wirtschaftswissenschaftliches Denken mit historischen Kenntnissen. Ich analysiere Erklärungsmodelle für das Entstehen modernen Wirtschaftswachstums und das Auseinanderklaffen von Reich und Arm, der sogenannten "Great Divergence". Ich hinterfrage allgemeine Theorien über die Ursachen modernen Wirtschaftswachstums im Sinne eines kontinuierlich ansteigendem Realeinkommens pro Kopf und sehe mir an, was wirtschaftsgeschichtliche und globalgeschichtliche Literatur konkret in Bezug auf den Anfang des modernen Wirtschaftswachstums und die Industrialisierung in Großbritannien behaupten.
In einer vergleichenden Analyse untersuche ich die Rolle von Ressourcen, Arbeit, Kapital, Markt, Innovation, Institutionen und Kultur. Damit sind wir bei einem weiteren Grund, weshalb mein Buch interessant sein kann, angelangt: Es ist global ausgerichtet. Ich bringe Beispiele aus jenen Weltregionen, die zur Erläuterung meiner Forschungsfrage die größte Aussagekraft haben. Insbesondere berücksichtige ich Großbritannien, wo Industrialisierung und modernes Wachstum als erstes auftraten, und China, jenes Land außerhalb Europas, über das in rezenten Diskussionen immer häufiger spekuliert wird, wieso es nicht viel früher industrialisierte.
GEWINNSPIEL: |
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uni:view: Der Wohlstand in westlichen Ländern ist hoch – oft wird in diesem Zusammenhang der Begriff "Wohlstandsgesellschaft" verwendet. Hat der Westen die Armut überwunden?
Peer Vries: Dass wir im Westen die Armut überwunden haben, kann man deswegen nicht behaupten, weil Armut ein relatives Konzept ist: Es wird immer Menschen geben, die ärmer sind als andere Menschen und sich demzufolge als arm betrachten. Ich würde aber meinen, dass die Armen im Westen gegenwärtig viel reicher sind, als die Armen vor der Industrialisierung. Letztere lebten oft sehr nahe am absoluten Subsistenzminimum. Vieles von dem, was für heutige Arme normal ist, besaßen die Menschen früher nicht. Für besonders wichtig halte ich, dass damals existierende Technologien, der Umgang mit Energie und die bestehenden Institutionen andauerndes Wachstum vor dem Zeitalter der Industrialisierung schlichtweg ausschlossen. Armut war Schicksal. Das Leben war für die Mehrheit der Menschen tatsächlich wie Hobbes sagte, nämlich‚ 'poor, nasty, brutish, and short'. Während in der vorindustriellen Welt arme Gesellschaften die Norm darstellten, kann Armut heutzutage in Prinzip überall überwunden werden.
uni:view: Können Sie den zentralen Faktor Ihres Modells im Buch kurz skizzieren?
Peer Vries: Was den Gegenwartsbezug meines Buches betrifft; die Frage wie Gesellschaften Armut bekämpfen können, ist bis heute hochaktuell geblieben. Der zentrale Faktor meines Erklärungsmodells ist Innovation. Momentan wird gerne diskutiert, ob Tempo und Wirkung von Innovation nachlassen, und ob es heutigen Innovationen nach wie vor gelingt, Wachstum zu generieren. Seit jeher vernichtete Innovation zuerst Arbeit, schuf in Folge allerdings neue Jobs und führte somit nicht zu struktureller Massenarbeitslosigkeit. Im Hinblick auf heutige Innovationen – ganz gleich ob sie zu Wachstum führen oder nicht – befürchten Ökonomen, sie würden mehr Arbeit vernichten als schaffen. Ein dritter Fokus liegt auf der Rolle des Staates. Um Großbritanniens Industrialisierung und Chinas Nicht-Industrialisierung zu erklären, halte ich die Rolle von Staatsinterventionen, Staatsfinanzen, Steuersystemen und Verschuldung für sehr wichtig. Als Großbritannien anfing zu industrialisieren, beteiligte sich der Staat interventionistisch: sowohl Steuern als auch Verschuldung waren hoch. Dies war in China das nicht industrialisierte nicht der Fall. Diese Tatsache ist höchst bemerkenswert und sie zu erklären, eine Herausforderung für die Wirtschaftswissenschaft.
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Peer Vries: Nachdem ich für meine Arbeit für gewöhnlich abstrakte Werke lese, bevorzuge ich in meiner Freizeit Bücher über Bösewichte und über die Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert. Das Werk von Paul Preston zur spanischen Zeitgeschichte, "Franco. A biography", das ich momentan zum zweiten Mal lese, ist für mich die ideale Lektüre. Nicht weil ich es als eine perfekte Biographie erachte – abgesehen davon, dass ich nicht weiß, was darunter genau zu verstehen ist –, sondern weil es mich fasziniert. Das Buch vermittelt den Eindruck, bei Franco handelte es sich um einen Mann, der kaum Ideen und Ideologien hatte. Einen Mann, der sich während seines ganzen Erwachsenlebens weder veränderte, noch seine Obsession mit Recht und Ordnung, Einheit oder der Nation verlor, noch müde wurde, die Freimaurer oder Kommunisten als Feinde des 'echten Spanien' zu verdammen. Einen Mann, der nach seinem frühen Eintritt in die Armee zeitlebens Militär blieb. Einen Mann, dessen Gefühle und Gedanken nahezu unmöglich zu rekonstruieren zu sein scheinen, weil man sehr bezweifeln darf, ob er viel Gefühle und Gedanken hatte. Und letztlich um eine intellektuell sehr nicht-beindruckende Person, die kaum las und fast nie im Ausland war.
Bei Preston erscheint Franco als überraschend mittelmäßige Person, 'eine Sphinx ohne Geheimnisse'. Das war er wahrscheinlich auch weitgehend. Trotzdem wurde er Herrscher Spaniens und blieb fast vier Jahrzehnte an der Macht. Er wurde zum 'Retter Spaniens', der sich nur 'gegenüber Gott und der Geschichte verantworten musste' und von seinen Anhängern unter anderem mit Alexander dem Großen, Julius Caesar, Karl dem Großen und Napoleon verglichen wurde.
Die Darstellungen Prestons können unmöglich lediglich als Diffamierung von Seiten des Autors, der deutlich nicht von der Person Franco begeistert ist, bezeichnet werden. Es gibt dann zu erklären wie Francos Version der 'Banalität des Bösen' so erfolgreich sein konnte. Meiner Meinung nach gelingt Preston diese Erklärung nicht ganz. Ich vermute, der Grund dafür liegt an seiner Tendenz, Francos 'Qualitäten' als Militär und Diktator etwas unter- und die intellektuellen, politischen und moralischen Qualitäten seiner Opponenten etwas über zu bewerten. Sein Werk ist aber so eloquent, akribisch dokumentiert und überzeugend argumentiert, dass es einen wirklich herausfordert, sich noch tiefer mit seinem Thema zu beschäftigen. Und eben das, macht ein gutes Buch aus.
Univ.-Prof. Dr. Peer Vries ist Professor für Globalgeschichte am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Er hat Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Leiden (Niederlande) studiert und ist dort promoviert worden.