Buchtipp des Monats von Emma Dowling

Emma Dowling lesend auf der Couch

"Soziologie des sozialen Wandels" lautet die Tenure-Track-Professur, die Emma Dowling an der Universität Wien innehat. In ihrer aktuellen Publikation "The Care Crisis" analysiert die Soziologin die Pflegekrise und fordert unter anderem die Implementierung neuer Modelle.

uni:view: Kürzlich ist Ihre aktuelle Publikation "The Care Crisis" erschienen. Was sind die Ursachen der sogenannten Pflegekrise?
Emma Dowling: In meinem Buch "The Care Crisis" habe ich am Fall Großbritanniens die Care-Krise durchdekliniert. Aber nicht nur in Großbritannien spitzen sich schon länger steigender Pflegebedarf, reduzierte Pflegefinanzierung und Zeitmangel, um für sich selbst und füreinander zu sorgen, zu einer Erschöpfung gesellschaftlicher Care-Ressourcen zu. Ich benutze bevorzugt den englischen Begriff "Care", weil er sowohl Pflege im engeren Sinn als auch Sorge im weiteren Sinn bezeichnet. 

Zu den Ursachen gehören der demografische Wandel und der Wandel der Altersstruktur: Der Pflegebedarf steigt, gleichzeitig gibt es einen neoliberalen Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge und eine versuchte Kommerzialisierung von Dienstleistungen. Schließlich müssen die meisten Menschen einen sehr hohen Anteil an Zeit mit Erwerbsarbeit verbringen, weil Reallöhne vielfach gesunken sind oder noch sinken. Hinzu kommt eine individualisierte Verantwortung für das Sorgen bei gleichzeitiger Indienstnahme von Verantwortung und Mitgefühl, was beides vielfach existierende Sorgebeziehungen – und die damit einhergehenden Geschlechter- und auch Klassenverhältnisse – aufrechterhält und gar vertieft.

uni:view: Wie können wir dieser Krise entgegentreten?
Dowling: Sinnvoll wären eine gut ausgebaute öffentliche Daseinsvorsorge und mehr steuerbasierte Finanzierung, um der Individualisierung von Sorge-Verantwortung entgegenzuwirken sowie mehr Ressourcen für den Pflegesektor zu Verfügung zu stellen. Zudem braucht es auch neue Modelle. Die Organisation Buurtzorg in den Niederlanden hat ein spannendes Modell des sogenannten Community Nursing entwickelt, das die Selbstorganisation der Pflegekräfte in Zusammenarbeit sowohl mit Pflege- und Hilfsbedürftigen wie auch mit ihren Angehörigen ins Zentrum rückt.

Erlesenes Erforschen: Buchpräsentation und Diskussion
Im Rahmen von "Erlesenes Erforschen" der Universitätsbibliothek Wien stellt Emma Dowling am Mittwoch, 30. Juni 2021, um 18.30 Uhr in der Aula am Campus der Universität Wien ihr Buch "The Care Crisis" vor. Anschließend steht sie für eine Diskussion zur Verfügung. Nähere Informationen

Wichtig ist aber auch: Damit wir uns auch jenseits professioneller Leistungen mehr umeinander kümmern können, brauchen wir zeitliche Entlastung. Das bedeutet auch eine deutliche Arbeitszeitverkürzung in der Erwerbsarbeit. Die Verantwortung für gesellschaftlich notwendige Sorgetätigkeiten darf nicht immer wieder an Frauen hängenbleiben. Deswegen braucht es weiterhin Bemühungen für ein Umdenken und ein Umverteilen in Geschlechterbeziehungen, zusammen mit einem Aufbrechen der traditionellen Familienstrukturen hinsichtlich der Verantwortung für Care, um eine Erweiterung verbindlicher und verbindender Sorgebeziehungen jenseits der Familie zu ermöglichen.

uni:view: Seit über einem Jahr beschäftigt uns auch die Corona-Krise, die in unmittelbaren Zusammenhang zur Pflegekrise steht, Stichwort Hochrisikogruppe, Pflegekräfte aus den Nachbarländern, etc. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Pflege?
Dowling: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass eine Gesellschaft nicht aus einzelnen abgeschotteten Individuen besteht. Wir sind mit anderen Menschen verbunden und brauchen einander. Die Corona-Pandemie hat auch gezeigt, wessen Tätigkeiten die Gesellschaft auch und gerade in Krisenzeiten am Laufen halten: etwa Supermarktkassiererinnen oder auch Menschen, die in der Logistik oder der Lebensmittelproduktion arbeiten. Wir verlassen uns darauf, dass diese Menschen – viele von ihnen sind Frauen – die Aufgaben erledigen, auf die keine Gesellschaft verzichten kann. Gerade in einer Pandemie gehören hier im Besonderen Gesundheits- und Pflegekräfte dazu. Aber auch jenseits der speziellen Herausforderungen einer Pandemie ist es so, dass Pflege- und Sorgetätigkeiten immer systemrelevant sind, da sie eine unverzichtbare Grundbedingung menschlichen Lebens darstellen. Trotz der hohen gesellschaftlichen Bedeutung dieser Tätigkeiten gehören sie aber zu denen, die vielfach gesellschaftlich abgewertet sind.

uni:view: Auch an Sie die vielzitierte Frage: "Wer soll das alles bezahlen?"
Dowling: Wir müssen uns als Gesellschaft entscheiden, dass uns Care mehr wert ist und mehr zeitliche und finanzielle Ressourcen benötigt. Das bedeutet eine andere Prioritätensetzung, die mit einer Umverteilung einhergeht. Eine Möglichkeit ist mehr steuerbasierte Finanzierung durch progressive Steuerreformen, also höhere Steuern für Besserverdienende und eine spürbare Besteuerung großer privater Vermögen. Das muss nicht unbedingt als Belastung gesehen werden. Eher sollte die Frage gestellt werden, wie eine bedarfsorientierte anstatt gewinnorientierte Wirtschaft aussehen kann.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten Leser*innen zur Verfügung:

1x "The Care Crisis" von Emma Dowling
1x "Night Haunts" von Suhdev Sandhu  

uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren Leser*innen? 
Dowling: Das Buch "Night Haunts" von Suhdev Sandhu.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Dowling: Dieses Buch beginnt mit der Frage, "Whatever happenend to the London night?" Um diese Frage zu beantworten nimmt Suhdev Sandhu die Leser*in dann mit auf eine Entdeckungsreise durch die nächtlichen Straßen dieser riesigen und dicht besiedelten Stadt, in der so viele Menschen leben wie in ganz Österreich. London ist viele Jahre mein Zuhause gewesen und ich erinnere mich wirklich gern daran, wie ich oft stundenlang durch die Straßen dieser unglaublichen Stadt gelaufen bin und den Trubel auf mich habe wirken lassen. 

"Night Haunts" lässt den Trubel des Tages allerdings hinter sich und erkundet die Stadt im gedimmten Licht der Straßenlaternen. Der Autor geht auf die Suche nach den unsichtbaren Arbeiter*innen, deren Arbeitsplatz die Nacht ist: die Nonnen von Tyburn, die Nachtwache halten, migrantische Arbeiter*innen, die die U-Bahn reinigen, Telefonseelsorgende, Taxifahrer, Graffitikünstler*innen, Schlafwissenschafter*innen. Sie sind nur einige von denen, die er begleitet und deren faszinierenden Arbeits- und Lebenswelten der Autor sichtbar macht.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Dowling: Ein Gefühl, in eine ganz andere Welt eingetaucht zu sein und ein Gefühl für das, was sich in der Stille der Nacht bewegt. Dankbarkeit denen gegenüber, die auch noch nachts für uns sorgen und Respekt für diejenigen, die losziehen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen. (td)

Emma Dowling hat eine Tenure-Track-Professur für Soziologie des sozialen Wandels am Institut für Soziologie der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Wien inne. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen sozialer Wandel, feministische politische Ökonomie, "Financialisation" und Gesellschaft, Sozialstaat und Transformation sowie Arbeit und Emotionen.