Buchtipp des Monats von Elisabeth Grabenweger

Elisabeth Grabenweger stellt in ihrer Publikation die Frage "Warum wurden an der Wiener Germanistik in den 1920er Jahren drei Frauen habilitiert?". In der damaligen Zeit eine absolute Ausnahme. Die Hintergründe erklärt die Germanistin im Interview – und verrät ihren persönlichen Lesetipp des Monats.

uni:view: Kürzlich ist Ihre Publikation "Germanistik in Wien" erschienen. Was war Ihre Intention, sich mit der Wiener Germanistik von 1848 bis 1938 derart intensiv zu befassen?
Elisabeth Grabenweger: Zum einen war es das grundlegende Interesse daran, wie die universitäre Disziplin "Deutsche Philologie", von der ich selbst ein Teil bin, funktioniert bzw. funktioniert hat. Welche Mechanismen und Logiken lassen sich erkennen? Und welche Auswirkungen haben personalpolitische, gesellschaftspolitische und methodische Veränderungen auf ein bestimmtes Fach in einem bestimmten Zeitraum? Zum anderen war es ein gewisses Unbehagen aufgrund der bisherigen Fachgeschichtsschreibung bzw. der Frauengeschichtsschreibung. Das kann doch nicht sein, dachte ich, dass diese Geschichte nur eine Geschichte der Verhinderung ist, so einfach ist die Welt meist nicht. Das soll aber jetzt nicht heißen, dass mein Buch eine Erfolgsgeschichte erzählt, so einfach ist die Welt nämlich auch nicht.

Buchpräsentation: Am Mittwoch, 16. November 2016, 18.30h, stellt Elisabeth Grabenweger ihr neu erschienes Buch "Germanistik in Wien" im Grillparzerhaus/Literaturmuseum, Johannesgasse 6, 1010 Wien, vor.  

Mich hat interessiert, wie es dazu kam, dass sich an der Wiener Germanistik mit Christine Touaillon, Marianne Thalmann und Lily Weiser innerhalb von nur sechs Jahren drei Frauen habilitieren konnten, was tatsächlich eine absolute Ausnahme darstellt. Und diese besondere Konstellation hat mir erlaubt, die Forschungsfrage umzudrehen, meine Frage lautete also nicht "Warum wurden Frauen ausgeschlossen?", sondern "Warum wurden an der Wiener Germanistik in den 1920er Jahren drei Frauen habilitiert?".

uni:view: Die Universität Wien ist die einzige deutschsprachige Uni, an der vor 1933 so viele Frauen im Fach Deutsche Philologie habilitiert wurden. Was sind die Hintergründe?
Grabenweger: Ausschlaggebend war das Zusammentreffen verschiedener Veränderungen. Zunächst spielte die Entwicklung der Germanistik zum Massenfach bei gleichzeitiger Stagnation des Stellenplans eine große Rolle. Das hieß damals wie heute, dass es schwierig wurde, dem gestiegenen Bedarf in der universitären Lehre gerecht zu werden. Wichtig wurden dadurch die Privatdozenten, ohne die das Studium nicht aufrechterhalten hätte werden können. Gleichzeitig hieß das aber auch, dass die Privatdozentur, die bis ca. 1900 einfach eine Etappe auf dem Weg zur ordentlichen Professur darstellte, vielfach ins Nichts führte. Die Privatdozenten wurden also für das Funktionieren des Faches unbedingt gebraucht, Karrieremöglichkeiten oder auch nur bezahlte Stellen wurden ihnen aber nicht geboten. Ähnlich ist das heute bei den befristeten AssistentInnen, den ProjektmitarbeiterInnen und den externen Lehrenden.

uni:view: Welche Forschungsinteressen charakterisieren die Karrieren der drei Privatdozentinnen Christine Touaillon, Marianne Thalmann und Lily Weiser?
Grabenweger: Die Karrieren der drei Germanistinnen verliefen sehr unterschiedlich.
Christine Touaillon stand der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Frauenbewegung nahe. Sie musste lange um die Habilitation kämpfen. Zunächst versuchte sie es an der Universität Graz, die sich jedoch weigerte, einer Frau die Venia Legendi zu verleihen. Sie schrieb die große Studie "Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts" und widmete sich vor allem einer Art – heute würde man sagen – Sozialgeschichte der Literatur. Touaillon starb bereits 1928. Sie hatte bei Jakob Minor studiert und war stark von einer historischen Betrachtung  der Literatur geprägt.

Marianne Thalmann interessierte die historisch-philologische Herangehensweise nicht, sie stand der Geistesgeschichte nahe und beschäftigte sich vor allem mit der literarischen Romantik. 1923 publizierte sie ihre Habilitationsschrift "Der Trivialroman und der romantische Roman", die Thomas Mann in seinem Roman "Der Zauberberg" für die Geheimbundpassagen verwendete, ja teilweise wörtlich abschrieb. Sie verband ästhetische, psychologische, philosophische und kunsttheoretische Erklärungsmuster zu einer sehr eigenwilligen Wissenschaftssprache, was in den 1920er Jahren durchaus en vogue war.

Lily Weisers wissenschaftliche und politische Ausrichtung sah wiederum ganz anders aus. Sie war die einzige Frau, die sich im Älteren Fach habilitierte. Ihre Habilitationsschrift "Altgermanische Jünglingsweihen und Männerbünde" von 1927 stand im Zentrum des Interesses einer ganzen "Männerbundschule", die der Altertumskundlers Rudolf Much, der einem antisemitischen Netzwerk an der Universität angehörte, aufbaute. Vor allem ging es den Vertretern darum, eine bis in die Gegenwart reichende "germanische" Kontinuität zu behaupten. Weiser verließ die Universität Wien bereits 1928, sie folgte ihrem Mann, dem Philosophieprofessor Jonathan Aall, nach Oslo, und arbeitete im Nationalsozialismus für das "Ahnenerbe", die "Wissenschaftsorganisation" der SS.

uni:view: Hat diese spezielle Historie der Wiener Germanistik bis heute einen Einfluss auf das Fach?
Grabenweger: Ich fürchte nein. Nach 1945 wollte sich im Fach niemand an die turbulenten 1920er Jahre erinnern. An der Wiener Germanistik hat man nach dem Nationalsozialismus – bis auf die Entlassung Josef Nadlers – auf "Kontinuität" gesetzt. Und die 1950er und 1960er Jahre waren von einer sehr konservativen und zum Teil reaktionären Wissenschaftsauffassung geprägt. Die Habilitierung der drei Frauen in den 1920er Jahren begründete keine Nachfolge oder "Frauentradition". Das Fach blieb männerdominiert. Sie wurden wohl auch vergessen, es gab ja sehr viele Privatdozenten in den 1920er Jahren. Vielleicht ändert sich das durch mein Buch. Das würde mich freuen.

Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:

1 x "Germanistik in Wien" von Elisabeth Grabenweger
1 x "Karl und das zwanzigste Jahrhundert" von Rudolf Brunngraber


uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Grabenweger: Ich empfehle den Roman "Karl und das zwanzigste Jahrhundert" des österreichischen Schriftstellers Rudolf Brunngraber. Der Roman erschien 1932 zunächst in der "Arbeiter-Zeitung", war danach ein internationaler Bucherfolg und wurde 2010 in der schönen Reihe "Revisited" des Wiener Verlags Milena neu aufgelegt.

uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Grabenweger: Brunngraber nannte sein Buch einen "Roman der Weltarbeitslosigkeit, der dreißig Millionen Spießrutenläufer". Einer dieser Spießrutenläufer, Karl Lackner, geboren 1893 in einem Findelhaus in Wien, ist der Protagonist des Romans. Er wird zerrieben von der Rationalisierung wirtschaftlicher und politischer Abläufe. Das einzige, was zählt, sind Zahlenreihen, statistische Angaben, auch im Ersten Weltkrieg, in den Lackner ziehen muss. Die vermeintliche Exaktheit, die das Weltgeschehen prägt, wird verbunden mit der "kleinen" Geschichte des Protagonisten. Brunngrabers Buch setzt ein Gegengewicht zu den gern zitierten Idyllen von "Wien um 1900", für Kitsch ist kein Platz. Und doch ist der Roman lakonisch und mit viel Witz geschrieben. Nicht nur inhaltlich, auch ästhetisch ist er großes Kino.

uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?  
Grabenweger: "Karl und das zwanzigste Jahrhundert" ist sicher eines der besten und klügsten Bücher des vorigen Jahrhunderts. Ich zitiere jetzt nicht den letzten Satz, aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich lohnt, das Buch zu lesen.

Mag. Dr. Elisabeth Grabenweger ist am Institut für Germanistik der Universität Wien tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Neuere deutsche Literatur.