Biografie als Fallstudie: die Frauenrechtlerin und Nationalistin Käthe Schirmacher

Käthe Schirmacher (1865-1930) war Schriftstellerin, Journalistin und Feministin der ersten Frauenbewegung. Ihr umfangreicher Nachlass dokumentiert ihre Reisen (etwa nach Russland, nach Ägypten oder in die USA) ebenso wie ihre politischen Aktivitäten und ihre Korrespondenz mit berühmten Zeitgenossinnen. Johanna Gehmacher vom Institut für Zeitgeschichte setzt sich mit ihrer spannenden Biografie auseinander. "uni:view" sprach mit der Historikerin über Käthe Schirmacher, ihren Wechsel zu völkisch-nationalen Kreisen und die Situation der Frauen- und Geschlechtergeschichte im 20. Jahrhundert.

"uni:view": Was fasziniert Sie an der Person Käthe Schirmacher?
Johanna Gehmacher: Käthe Schirmacher war eine zentrale Figur der radikalen internationalen Frauenbewegung und in vielen Dingen eine Vorreiterin. Sie hat als eine der ersten Frauen ein Doktorat erworben und als eine der wenigen Aktivistinnen der Bewegung offen homosexuell gelebt. Um 1904 herum kommt es dann – als Schirmacher sich völkisch-nationalen Kreisen zuwendet – zu einer biografischen Wende. So etwas ist sehr interessant. Biografien verstehe ich als Fallstudien, in denen in besonderer Weise analysiert werden kann, wie Gesellschaft zu einem spezifischen Moment funktioniert hat.
 
"uni:view": Was passierte, als sich Käthe Schirmacher als völkische Nationalistin betätigte?
Gehmacher: Es kam zum Bruch mit der radikalen Frauenbewegung. Schirmacher wurde aus den großen internationalen Zusammenhängen ausgestoßen, zum Teil ging sie selbst. Sie beharrte allerdings weiterhin darauf, Feministin zu sein. Es scheint, als war ein Motivationsgrund ihrer völkisch-nationalen Hinwendung die Politisierung ihrer Anliegen. Dazu gehört der Gedanke, nicht nur die Geschlechterverhältnisse verändern zu wollen, sondern den Staat als Ganzes zu verbessern.

Was bedeutet der Frauentag für Sie?
Johanna Gehmacher:
Früher bin ich hin und wieder demonstrieren gegangen, aber das jubiläumsmäßige Feiern des Tages entspricht nicht ganz meinem persönlichen Zugang. Es ist dennoch sinnvoll, im öffentlichen Leben wiederkehrende Anlässe zu haben und auf Themen aufmerksam zu machen. Der Frauentag ist eine Gelegenheit, ökonomische, rechtliche und kulturelle Ungleichheiten wie sie im Verhältnis der Geschlechter nach wie vor – in Europa, vor allem aber auch im globalen Kontext – bestehen, öffentlich zu thematisieren.

Als Historikerin kann ich in diesem Rahmen auf die Jubiläumsausstellung "FESTE. KÄMPFE. 100 JAHRE FRAUENTAG" hinweisen, die bis 30. Juni 2011 im Österreichischen Museum für Volkskunde läuft.

"uni:view": Welche Schlüsse lassen sich aus ihrem umfangreichen Nachlass über die damalige Frauenbewegung ziehen?
Gehmacher: Auffällig sind die internationale Vernetzung und das dichte Kommunikationsnetz. Durch Briefe tauschten sich die Frauen oft wöchentlich aus. Auch das Reisen spielte eine große Rolle. Bereits in den 1890er Jahren wurden vielerorts Kongresse abgehalten. Die Reisenden trugen relevante Themen weiter und stellten so zwischen den Orten eine Beziehung her."uni:view": Wie nah kommt man einer Person bei der Untersuchung ihres Nachlasses, der ja oft sehr private und persönliche Dinge enthält? Gehmacher: Es ist natürlich ein methodisches Erfordernis, die Distanz zu wahren auch wenn zum Teil intime Alltagsdetails analysiert werden. In diesem Interview rede ich beispielsweise über Käthe Schirmacher, als würde ich sie persönlich kennen. Auf eine gewisse Weise  ist sie mir aber  genauso fremd wie Ihnen. Wenn man mit biografischem Material arbeitet, bleibt vieles offen. Durch das Nebeneinanderstellen von mehreren möglichen Deutungen lässt sich die Scheinintimität jedoch verhindern.

"uni:view":
Die Zeitgeschichte als Frauen- und Geschlechtergeschichte bildet einen Ihrer Forschungsschwerpunkte. Was macht das 20. Jahrhundert dabei so interessant?

Gehmacher:
Im 20. Jahrhundert kam es zu grundlegenden Transformationen der Geschlechterverhältnisse. Aus Sicht der Frauen begann mit den erworbenen Partizipationsmöglichkeiten, z.B. den bürgerlichen Rechten, die Jetzt-Zeit. Eine zentrale Frage ist jedoch, wieso trotz der rechtlichen Gleichheit so viel Ungleichheit existiert. Die Aufgabe der Zeitgeschichte ist es, den Mythos der Gleichheit zu entlarven.
 
"uni:view": Was würden Sie der Frauen- und Geschlechterforschung für die Zukunft wünschen?
Gehmacher: Entscheidend ist immer, von wem man sich etwas wünscht. Der Frauen- und Geschlechterforschung wünsche ich auf institutioneller Ebene eine gute Dotierung und Finanzierung. Ebenso wünsche ich mir weiterhin das fachliche Interesse der Studierenden. Die Forschung lebt von der Partizipation von NachwuchswissenschafterInnen, von Innovationswillen und neuen Ideen. (mw)


Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Johanna Gehmacher lehrt und forscht am Institut für Zeitgeschichte. Neben (Auto-)biografie und der Zeitgeschichte als Frauen- und Geschlechtergeschichte zählen auch theoretische und empirische Perspektiven auf Nationalismus und Geschlecht, Jugendkulturen und Formen der Jugendorganisierung im 20. Jahrhundert sowie Politik und Geschlecht zu ihren Forschungsschwerpunkten.