Auf den Spuren der Weihnachtsgeschichte

Die neutestamentlichen Erzählungen rund um die Geburt Jesu im Matthäus- und im Lukasevangelium enthalten zahlreiche Bezüge auf das Alte Testament: Um dem "Neuen" Autorität zu verleihen und dem "Alten" gegenüber Kontinuität zu demonstrieren, erzählen die Evangelien die Geburt Jesu mit Worten aus der Hebräischen Bibel. Von diesen alttestamentlichen Wurzeln der Weihnachtsgeschichte berichtet uns Marianne Grohmann vom Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie in einem Gastbeitrag.

Die Erzählungen über die Geburt Jesu stehen in einer Reihe mit alttestamentlichen Geburtsberichten. In stilisierter Sprache wird erzählt, wie eine zunächst lange Zeit kinderlose Frau - z.B. Hanna - durch göttliches Eingreifen schwanger wird. Auf die Geburtsankündigung folgt eine knappe, formelhafte Schilderung der Geburt. Das Magnifikat - der psalmenartige Lobgesang, mit dem Maria auf die Ankündigung der Geburt Jesu durch Engel Gabriel antwortet (Lukas 2,46-55) - ist nach dem alttestamentlichen Lied der Hanna gestaltet und wird der schwangeren Maria in den Mund gelegt. In der Sprache der Psalmen drücken beide Frauen ihre Freude über einen Gott aus, der Unmögliches möglich macht. Der Stammbaum Jesu dient dazu, seine Verwurzelung in der Geschichte Israels zu demonstrieren. Jesus hat ganz konkrete, prominente Vorfahren aus dem jüdischen Volk, wie z.B. David und Rut.

Ein Kind als Zeichen

In die Evangelientexte sind alttestamentliche Zitate verwoben, vor allem aus den prophetischen Büchern der Hebräischen Bibel, z. B. Jesaja 7,14: "Siehe, die junge Frau (hebräisch alamah; griechisch parthenos) ist schwanger und wird einen Sohn gebären, und man soll seinen Namen Immanuel (mit uns ist Gott) nennen". Die theologische Vorstellung von Immanuel ist zentral für das Alte Testament: Sie drückt die unbedingte Gotteszusage, Mit-Sein und Präsenz aus. Jesus wird damit in das Selbstverständnis des Volkes Israel mit hineingenommen. Ursprünglicher Kontext dieser Verheißung sind Aussagen des Propheten Jesaja aus dem 8. Jahrhundert v. Chr.: In einer Situation von Krieg und realer Bedrohung bestärkt Jesaja den judäischen König Ahas darin, allein auf den Gott Israels zu vertrauen. Zur Bestätigung seiner Hoffnungsbotschaft und als Zeichen für die Macht Gottes, kündigt Jesaja Ahas die Geburt eines Kindes an, vielleicht eines Thronfolgers oder eines Prophetensohnes - wobei die Texte sehr offen gehalten sind. Das Besondere der Botschaft Jesajas liegt in der Umkehrung der Verhältnisse: Zeichen für die von Gott zugesagte Unterstützung ist nicht ein starker, politisch einflussreicher König, sondern die Geburt eines Kindes, Inbegriff von Hilflosigkeit und des Angewiesenseins auf menschliche und göttliche Unterstützung.

Orte mit Geschichte

Dass die "heilige Familie" in den Erzählungen so weite Strecken - von Nazareth nach Bethlehem, Ägypten und wieder Nazareth - zu Fuß zurücklegt, hat mit der Symbolik dieser Orte zu tun. Die Schauplätze der Weihnachtsgeschichte sind nicht zufällig, sondern theologisches Programm. Sie erinnern an Ereignisse aus der Geschichte Israels.
Josef stammt aus Nazareth. Nach der Reise nach Ägypten kehrt Josef zurück, zieht in das Gebiet von Galiläa und lässt sich in einer Stadt namens Nazareth nieder, deren Name an einen "jungen Trieb (nezer) aus seinen (Isais) Wurzeln" (Jesaja 11,1) erinnert.

Mit Bethlehem, einem kleinen, sonst wenig bedeutsamen Ort etwa sieben Kilometer südlich von Jerusalem, verbinden sich viele alttestamentliche Assoziationen: Es ist die Geburtsstadt Davids, und Samuel salbt ihn dort zum König. Bethlehem ist Schauplatz der Erzählung von Rut, einer der Stammmütter Jesu. Beim Propheten Micha wird Bethlehem als Geburtsort eines zukünftigen Herrschers aufgewertet.
Die Flucht der "heiligen Familie" nach Ägypten weckt zweifache Assoziationen: Einerseits ist es als "Kornkammer" bekannt, andererseits steht es für Unterdrückung und Sklaverei, aus der Gott das Volk Israel durch den Exodus befreit hat.

David: Vom König zum Messias

Die dargestellten Bezüge auf die Hebräische Bibel sind verschiedene Facetten des einen Hauptmotivs: Jesus als Messias, als Retter und König Israels, als Sohn Davids darzustellen. Schon in alttestamentlicher Zeit wurde David vom realen König mit sehr menschlichen Eigenschaften zu einem idealisierten Messias-Titel. Die Messias-Vorstellung ist ein kritisch-utopisches Gegenbild gegenüber Erfahrungen sowohl mit den eigenen Königen in der Frühzeit als auch mit fremden Besatzungsmächten seit der Exilzeit. Die Vorstellung von einem gewaltlosen, königlichen Amt, das nicht menschliche Herrschaft, sondern die Macht Gottes durchsetzt, ist ein Hoffnungsbild in einer Zeit eigener Machtlosigkeit.

Im Judentum wird diese Messiasvorstellung offen gehalten. Die Spuren der Weihnachtsgeschichte führen also zu unterschiedlichen Kontexten in der Hebräischen Bibel und zu einer Vielfalt von in diesen Texten angelegten Interpretationsmöglichkeiten.

Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Marianne Grohmann ist Vorständin des Instituts für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät.

Buchtipp:
Christoph Wetzel u.a. (Hg.): Jesus von Nazareth, zu Bethlehem geboren. Die biblischen Überlieferungen im Spiegel von Kunst und neuer Forschung, Freiburg/Basel/Wien: Herder 2003. Beitrag von Marianne Grohmann: "Wurzeln im Alten Testament".