1968 war in Österreich anders: Zwischen Kaltem Krieg und Aktionismus

In vielen Ländern gilt das Jahr 1968 als der Höhepunkt der linksgerichteten Studierenden- und Bürgerrechtsbewegungen. Auch in Österreich hat sich vor 50 Jahren einiges getan, wie der Zeithistoriker Oliver Rathkolb in seinem Gastbeitrag für uni:view berichtet.

Die kollektive und mediale Auseinandersetzung mit den europäischen und internationalen Schlüsselereignissen des Jahres 1968 wird in Österreich bis heute von der Zerschlagung des "Prager Frühlings" durch Panzer der Warschauer-Pakt-Truppen in der Nacht von 20. auf 21. August dominiert. Diese Intensität hängt auch damit zusammen, dass mit dieser Fokussierung die Bedeutung der österreichischen Neutralität als wichtige Identitätsmetapher verstärkt werden kann.
 
Die damalige Bundesregierung unter Bundeskanzler Josef Klaus reagierte passiv und zurückhaltend, was zumindest kurzfristig zu fast panikartigen Reaktionen und einer Reihe von psychologischen und militärstrategischen Fehlern führte. Der eben neu aufgestellte ORF unter der Führung von Generalintendant Gerd Bacher hingegen berichtete am 21. August 1968 ab 2.12 Uhr "als erste Hörfunk- und Fernsehgesellschaft der Welt" mit Sondermeldungen über die Invasion – ARD und andere westdeutsche Sender brachten erst ab 6 Uhr früh Meldungen darüber.

"Kein Ruhmesblatt"

Die erste Rundfunkrede von Bundeskanzler Klaus war verglichen mit dem entschiedenen Protest von Bundeskanzler Julius Raab gegen die Intervention der Sowjetunion in Ungarn 1956 laut Gerd Bacher "leisetreterisch" und kein "Ruhmesblatt".

Bis zum 17. September 1968 wurden in 93.653 Fällen für tschechoslowakische StaatsbürgerInnen, die vorerst in Österreich die Entwicklung der Situation abwarten wollten, Quartier und Verpflegung zur Verfügung gestellt. In diesem Zeitraum stellten aber nur 1.355 Personen Asylanträge. Auch 1968 fungierte Österreich eher wie 1956 als Transitland: 160.000 TschechInnen und SlowakInnen blieben bloß kurze Zeit in Österreich, nur rund 10.000 stellten Asylanträge, und nur 600 wurden bis 1970 eingebürgert.

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Gemeinsam mit seinem Kollegen Friedrich Stadler hat der Zeithistoriker Oliver Rathkolb das Jahr 1968 historiografisch unter die Lupe genommen. Das bis heute in der Zeitgeschichte kontrovers dargestellte Jahr 1968 wird in dem Band aus interdisziplinärer und internationaler Perspektive in Form von dichten Beschreibungen und Analysen behandelt. Nähere Informationen

Post-1968er Protest als Folge der geopolitischen Lage

Typisch für Österreich ist, dass die 1968 "Revolution" höchstens, wie dies Fritz Keller treffend formuliert hat, im universitären-studentischen Umfeld höchstens eine "heiße Viertelstunde" gewesen ist. Nachhaltiger und durchaus auch mit politischen Folgewirkungen hingegen war die Auseinandersetzung mit der aufgrund der geopolitischen Lage und der militärischen Neutralitätsverpflichtung aus 1955 Remilitarisierung Österreichs.

Das "Volksbegehren zur Auflösung des österreichischen Bundesheeres" wurde seit 1969 von links-katholischen und links-sozialdemokratischen Aktivisten um den Publizisten Wilfried Daim und dem Eigentümer und Chefredakteur des "Neuen Forums" Günther Nenning getragen. Es sollte zwar nicht erfolgreich sein, aber doch das öffentliche Unterfutter für den höchst gemäßigten Wahlkampfslogan der SPÖ-Jugend, den Bruno Kreisky übernahm, "6 Monate sind genug", dienen.

Ein Klima der Gewalt

Ein zweite kaum bekannte Facette der Auswirkungen der Auseinandersetzungen in Europa mit der Stellung von jungen Menschen in hierarchisch-autoritär gestalteten Gesellschaften, findet sich im "Kampf" um die Öffnung der extrem brutalen und rigid geführten "Jugenderziehungsheime". Es herrschte ein Klima der Gewalt, physisch ebenso wie strukturell. Als Reflex auf die Studenten- und Jugendrebellion von 1968 kann gedeutet werden, dass 1971 unter der Mitwirkung von Günther Nenning, von Spartakisten und anderen linksgerichteten Aktivisten versucht wurde, Heime zu besetzen, um auf die problematische Situation hinzuweisen.

Bereits im Jänner 1968 gab es eine erste Diskussion über die autoritären und rückschrittlichen Strukturen an österreichischen Universitäten. So berichtete die SPÖ-Arbeiter-Zeitung am 13. Jänner 1968 über eine ORF-Diskussion, in der drei österreichische Professoren – der Physiker Hans Tuppy, der Soziologe Erich Bodzenta und der Mathematiker Rudolf Inzinger – mit zwei deutschen Kollegen – dem Germanisten Walther Killy und dem Altgermanisten Peter Wapnewski – und zwei Studentenvertreter – Werner Vogt von dem ÖVP-nahen Wahlblock und Peter Kreisky vom VSSTÖ auftraten. Tenor der Berichterstattung war: "Universität: Wie im Mittelalter! Deutsche Professoren sind über Verhältnisse an Österreichs Hochschulen entsetzt. Erschütternder Eindruck von dem reaktionären Geist, von der Missachtung der demokratischen Grundprinzipien".

Hörsaalbesetzung im Jahr 1968 an der Universität Wien
Der damalige Rektor Fritz Schwind nimmt zur Besetzung des Auditorium Maximums im Ö1-Mittagsjournal Stellung. Zum Beitrag. (© Archiv der Universität Wien, Signatur: 106.I.3924)

"Im Audi Max is' a Wirbel"

Doch derartige Kontroversen wurden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und führten zu keinen kurzfristigen Strukturänderungen. Selbst Demonstrationen wie bei einem Vortrag eines Diplomaten des autoritären griechischen Regimes lassen sich in deren Wirken mit dem Bonmot eines Pedells gegenüber dem damaligen Rektor Fritz Schwind zusammenfassen: "Magnifizenz, im Audi Max is' a Wirbel" (12. März 1968), der sich seinerseits auf einem Ball im Großen Festsaal der Universität Wien befand.

Negative öffentliche Meinungsmache wurde aber von Boulevardmedien vor allem aus der "Aktion Kunst und Revolution" von Otto Mühl, Günther Brus, Oswald Wiener und anderen am 6. Mai 1968 im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes gemacht.  Der "linke" Express jagte "Österreichs Kulturrevoluzzer" und die konservative Tageszeitung "Die Presse" beklagte "dass hunderte Studenten hier wohlgefällig zusehen und nicht zumindest weggesehen haben." Die linken Studentenfunktionäre fürchteten, dass durch diese Diskussion endgültig Studentenproteste wie in Frankreich oder der Bundesrepublik Deutschland in Österreich nicht Nachahmung finden konnten – und sie sollten Recht behalten.

Oliver Rathkolb ist Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Vorsitzender des internationalen Beirats zur Etablierung eines Hauses der Geschichte Österreich. Er forscht u.a. zur Europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert, Österreichischen und internationalen Zeit- und Gegenwartsgeschichte im Bereich der politischen Geschichte und österreichischen Republikgeschichte im europäischen Kontext. (© Matthias Cremer)