Geballte Migrationsforschung an der Universität Wien

Migration ist und war einem ständigen Wandel unterworfen: Entsprechend unterschiedliche Ansätze und Traditionen gibt es in der Migrationsforschung. Im Herbst widmen sich drei Konferenzen dem Thema aus verschiedenen Perspektiven. Mit dabei eine Vielzahl an WissenschafterInnen der Universität Wien.

Soziologie, Geographie, Sprachwissenschaft, Bildungswissenschaft, Psychologie, Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Sozialanthropologie, Geschichte, Afrikawissenschaft, Ostasienwissenschaft und Theologie. Die Liste an Disziplinen an der Universität Wien, deren WissenschafterInnen sich mit den Themen Migration und Integration beschäftigen ließe sich noch weiter in die Länge ziehen.

Die geballte Expertise an Migrations- und IntegrationsforscherInnen der Universität Wien zeigt sich unter anderem bei der zweiten Jahrestagung für Migrations- und Integrationsforschung am 18. und 19. September 2012. Eröffnet wird sie vom Migrationsexperten Heinz Faßmann – Vizerektor der Universität Wien und Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – sowie Christoph Reinprecht, Leiter der Forschungsplattform Migration and Integration Research.


Christoph Reinprecht, Professor am Institut für Soziologie und Leiter der Forschungsplattform Migration and Integration Research: "Aufgrund der hohen gesellschaftspolitischen Relevanz von Integration und Migration fordert die Gesellschaft von der Forschung vertiefende Analysen. In Österreich gab es bisher keine eigene Forschungseinrichtung dafür, weshalb sich die vielen ForscherInnen an der Universität Wien zusammengeschlossen haben, um wissenschaftliche Theorien zu verbinden. Denn Integrations- und Migrationsforschung ist multidisziplinär mit dem Anspruch unterschiedliche Perspektiven zusammenzuführen. Interessant ist, dass die Universität Wien selbst Akteur und Motor von Integrations- und Migrationsgeschehen ist: Die internationale Mobilität nimmt zu, die zweite Generation der MigrantInnen in Österreich kommt an die Universitäten, die Universität selbst erzeugt Wissen über Migration und Integration und reflektiert dabei gleichzeitig die eigene Gesellschaft, bzw. Institution mit."



Als eine von drei Konferenzen, die im September und Oktober das Thema Migration aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, trägt die Tagung dazu bei, den interdisziplinären Forschungsdiskurs zu fördern. Neben österreichischen WissenschafterInnen – wie dem bekannten Migrationsforscher Rainer Bauböck – stehen auch internationale MigrationsexperInnen wie Steve Vertovec vom Max-Planck-Institut Göttingen am Podium. Organsiert werden die Veranstaltungen von der Universität Wien zusammen mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Academia Europaea.

Integration durch Sprache

Bei der Jahrestagung – einer Initiative der Forschungsplattform Migration and Integration Research – stehen die Themen Migration und demographischer Wandel, Zuwanderung von Studierenden und Hochqualifizierten, irreguläre Migration sowie die Bedeutung von Integration in Theorie, Politik und Praxis im Vordergrund.


Rudolf de Cillia, Professor am Institut für Sprachwissenschaft: "An unserem Institut beschäftigen wir uns mit Sprachförderung an Schulen und in der Erwachsenenbildung, Verfahren von Sprachstandserhebungen, der Bedeutung lebensweltlicher Mehrsprachigkeit für Schule und Gesellschaft sowie der diskursiven Konstruktion individueller und gesellschaftlicher Identität/en. Für mich sind aktuell besonders Fragen der vorschulischen Sprachförderung, Modelle der Literalisierung in der Zweitsprache bzw. zweisprachiger Alphabetisierung und Fragen der diskursiven Ausgrenzung von MigrantInnen wichtig. Die Rolle der deutschen Sprache für den Integrationsprozess wird m.E. überschätzt: gute Deutschkenntnisse schützen noch lange nicht vor institutioneller oder diskursiver Diskriminierung. Die Bedeutung der anderen in Österreich gesprochenen Sprachen und der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit wiederum wird unterschätzt."



ForscherInnen der Universität Wien widmen sich diesen Themen unter anderem aus sprachwissenschaftlicher Perspektive: Die Themen "Mehrsprachigkeit im Kindergarten und im alltäglichen Leben" sowie "Integration durch Sprache? Integrationspolitik und Sprachenpolitik" beleuchten der Bildungswissenschafter Wilfried Datler und der Sprachwissenschafter Rudolf de Cillia. "Die Sprachwissenschaft befasst sich mit vielen Aspekten der Migrationsforschung, im Rahmen der Sprachlehrforschung, der Sprachenpolitik- und Spracherwerbsforschung und auch im Rahmen der Diskursanalyse", erklärt De Cillia.



Eva Vetter, Professorin für Fachdidaktik und Leiterin des Fachdidaktischen Zentrums Sprachlehr- und -lernforschung: "Eine aktuelle Herausforderung liegt in unserem Bereich darin, dass auch Sprachwissenschaft und Fachdidaktik Heterogenität und Veränderlichkeit als normal annehmen müssen – das führt zur Hinterfragung von Konzepten und deren Implikationen, wie z.B. Muttersprache – Fremdsprache – Zweitsprache. Die Beschreibung mehrsprachiger Praxis ist in meinen Augen ein Auftrag an die Sprachwissenschaft und ein wichtiger Schritt für ein besseres Verständnis von Migrations- und Integrationsprozessen." Zur Rolle der Sprache beim Integrationsprozess: "Sprache wird gerne als Schlüsselfaktor für Integration dargestellt – das ist wenig hilfreich und im Übrigen wäre der Umkehrschluss ebenso treffsicher. Im Bildungskontext werden bestimmte Formen von Mehrsprachigkeit häufig auf die unzureichende Kenntnis der Unterrichtssprache reduziert und als Herausforderung für die Gesellschaft im Allgemeinen und für das Bildungssystem im Speziellen bezeichnet – Einsprachigkeit wird eben immer noch als Normalfall angenommen. Aus meiner Sicht liegt eine der größten Herausforderungen in der PädagogInnenbildung, d.h. darin, dass Lehrende in Situationen sprachlicher Vielfalt verantwortungsbewusst und im Sinne von Bildungsgerechtigkeit handeln lernen."



Die Fachdidaktikerin Eva Vetter und die Germanistin Inci Dirim moderieren die Panels, bei denen die Bedeutung von Sprache im Integrationsprozess im Vordergrund steht. Die Vorträge beziehen sich nicht nur auf Österreich, sondern präsentieren auch vergleichende europäische bzw. transatlantische Perspektiven. Letzteres unter der Moderation von Vizerektorin und Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik.


Regina Polak, Assistenzprofessorin am Institut für Praktische Theologie: "Im Unterschied zur US-amerikanischen Theologie wird das Thema Migration in der deutschsprachigen Theologie erst langsam entdeckt. Dabei ist das Christentum, wie auch das Judentum, eine 'Migrations-Religion'. Die Bibel ist in weiten Teilen im Kontext von Migrationserfahrung entstanden. Auch Gott begegnet laut biblischem Zeugnis den Menschen in den sogenannten 'Fremden', das Alte Testament hat eine Gesetzgebung für Fremde, angesichts dessen Humanität Europa sich mitunter schämen müsste. Jesus und seine Wanderpredigerbewegung waren 'MigrantInnen'. Migration ist also ein zentraler 'Ort' der Gotteserfahrung und -erkenntnis. Eine 'migrationssensible Theologie' erforscht ihre Themen immer auch im Horizont dieser – hoffentlich lebendigen – Erinnerungen. Außerdem forscht und lehrt eine solche Theologie im Bewusstsein, dass sie Teil einer Migrationsgesellschaft ist. Erfahrungen mit Migration – in der Tradition und in der Gegenwart, bei den Einheimischen und den Zuwanderern - spielen daher beim Theologisieren eine Schlüsselrolle."



"Die Praktische Theologie fragt, welche – durchaus ambivalente– Rolle Religion in Migrationsprozessen spielt bzw. spielen kann bzw. nicht spielen darf – in Politik, Kultur und Gesellschaft, im Bildungssystem, in den Kirchen und Religionsgemeinschaften", erklärt die praktische Theologin Regina Polak, die sich gemeinsam mit anderen TheologInnen – unter Moderation von Dekan Martin Jäggle – mit "Migration als Anfrage an die Theologie" befasst. Sie wünscht sich, das Thema Migration in Zukunft viel stärker unter der Perspektive eines Potenzials, eines "Gewinns" für die Gesellschaft zu erforschen: "Außerdem wäre es wichtig, die Themen Migration und Integration etwas zu entkoppeln."

Im Rahmen der Panels "Irreguläre Migration" oder "Support and Opposition to Migration" beleuchten SoziologInnen und PolitologInnen rund um Sieglinde Rosenberger die rechtlichen, bzw. sozialpolitischen Aspekte von Migration.


Sieglinde Rosenberger, Professorin am Institut für Politikwissenschaft: "Die politikwissenschaftliche Migrationsforschung beschäftigt sich zum einen mit der politischen Gestaltung transnationaler/internationaler Bewegungen, den Regelungen bezüglich Zugang zu nationalstaatlich fixierten Territorien sowie zu Rechten (Staatsbürgerrechten). Gleichzeitig stellt sie sich der Herausforderung, die Veränderungen der Prozesse und Institutionen politischer Systeme, sei es nationalstaatliche oder die Europäische Union, durch Migration und Mobilität zu untersuchen. So sind beispielsweise in einer Reihe von europäischen Ländern politische Akteure stark geworden, die das Migrationsthema prominent präsentieren, insbesondere damit Wahlkämpfe bestreiten."



Migration, Literatur und die Türkei

Von 26. bis 28. September folgt ein Workshop zu Migration und Literatur, der ebenfalls von Heinz Faßmann – gemeinsam mit Literaturwissenschafter Norbert Bachleitner – eröffnet wird. Dabei zeigt der Amerikanist Waldemar Zacharasiewicz auf, wie unterschiedlich sich die Literaturen von ImmigrantInnen und ethnischen Minderheiten in den USA und Kanada im vergangenen Jahrhundert entwickelt haben.

Die dritte Veranstaltung am 15. und 16. Oktober 2012 läuft unter dem Titel "Turkey and Europe: Mobility, Creativity and Trajectories". WissenschafterInnen aus Europa und der Türkei untersuchen Migrationsflüsse zwischen Europa und der Türkei sowie Veränderungen in der Türkei und die Integration von TürkInnen in Europa – vor allem im Vergleich zu anderen MigrantInnen. Migrationsexperte Heinz Faßmann spricht in diesem Rahmen über "Turks in Europe: Migration Flows, Migrant Stocks and Demographic Structure" und die Kultur- und Sozialanthropologin Ayse Caglar über "Rescaling Migration Scholarship". (red)

2. Jahrestagung Migrations- und Integrationsforschung in Österreich
Dienstag, 18. bis Mittwoch 19. September 2012
Universität Wien und Österreichische Akademie der Wissenschaften
Programm

Workshop: Migration and Literature: theories, approaches and readings
Keynote von Waldemar Zacharasiewicz: "Migrating Across the Oceans: Challenges of Settlement in the USA and Canada"
Mittwoch, 26. September 2012, 18 Uhr 30
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Ignaz Seipel Platz 2, 1010 Wien (Clubraum)
Programm

Konferenz: Turkey and Europe: Mobility, Creativity and Trajectories
Montag, 15. Oktober bis Dienstag, 16. Oktober 2012
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Dr. Ignaz Seipel Platz 2, 1010 Wien
Programm

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