Zwischen Liturgie und Magie: Religionen in Westafrika
Gastbeitrag von Hans Gerald Hödl | 09. November 2012Himmlische Christen, Heilige Wälder, Heilungsrituale und Totengeister: Das Institut für Religionswissenschaft organisierte eine Exkursion nach Togo und Benin unter der Leitung von Hans Gerald Hödl. Die Reise durch Westafrika stand im Zeichen von Kultur und Religionen an der ehemaligen Sklavenküste.
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Die abenteuerliche Reise durch Teile des frankophonen Westafrikas begann und endete in Lomé, der Hauptstadt Togos. Hier verbrachten wir die ersten fünf und die letzten vier Tage. Zunächst stand das Kennenlernen der Stadt auf dem Programm, wobei ein Besuch des Grand Marché (im Bild) nicht fehlen durfte. Die Unterkunft bei Familien sollte einen möglichst lebensnahen Eindruck vom Alltag im Gastland vermitteln. Die Reise führte uns weiter nach Aného, Ouidah, Abomey, Porto Novo, Kpalimé und Togoville. Dabei besuchten wir historische Stätten und religiöse Orte und nahmen an verschiedenen Ritualen teil. Wir führten Gespräche mit VertreterInnen verschiedener Religionen, u.a. mit einem katholischen Priester, der uns den Standpunkt der katholischen Kirche zu traditionellen Kulten und die Sichtweise der westafrikanischen Kirche zu weltkirchlichen Fragen erläuterte. So bekamen wir ein eindrückliches Bild von der religiösen Vielfalt im Land und dem Verhältnis der Religionen untereinander. Der Schwerpunkt lag jedoch auf den "traditionellen" Kulten der Vodun (Voodoo).
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Die religionswissenschaftlich relevanten Erkundungen begannen mit einer Teilnahme an dem über dreistündigen Sonntagsgottesdienst des Christianisme Celeste, einer autochthonen westafrikanischen Kirche (Aladura). Die Integration von westafrikanischen kulturellen Ausdrucksformen (Gesang, Tanz, Trommeln) und traditioneller Religiosität auf struktureller Ebene macht diese Kirche als eine Form der "spontanen Inkulturation" (Albert de Surgy) zu einem besonders interessanten Beispiel für den – durch die Begegnung mit dem Christentum hervorgerufenen – kulturellen Wandel.
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In Lomé ergab sich bei einem Besuch des Bokono (Priester des Alafia, dem Vodun eines komplexen Orakelsystems) Sossou im Stadtteil Akodessewa die Möglichkeit, an einem umfänglichen Heilungsritual für einen Klienten teilzunehmen. Zuerst wurde ein Orakel gestellt, dann wurden mehrere Opfer dargebracht, verschiedene Gebete gesprochen und schließlich festgestellt, ob das Ritual einen guten Verlauf genommen hat. Laut Auskunft des Priesters hatte der Mann am Morgen nicht richtig gehen können. Wir sahen ihn jedenfalls am Ende des Rituals tanzen.
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In den Vodun-Kulten werden weiße Tücher verwendet, um Teile der Opfergaben (Palmöl, Mais, Blut geschlachteter Tiere) aufzunehmen. So auch im Verlauf des Heilungsrituals bei Bokono Sossou. Der Brauch dürfte einen bekannten österreichischen Künstler zu seinen Werken inspiriert haben.
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Wer in Lomé ist, muss auch den sogenannten "Marché des Fetiches" besuchen: Hier werden Ingredienzen für Vodun-Rituale (erst durch die Rituale werden sie mit spiritueller Kraft geladen) und traditionelle Medizinen verkauft. Interessant ist dabei das Phänomen, dass die irreführende Fremdbezeichnung "Fetisch" als Selbstbezeichnung übernommen worden ist (ähnlich bei den Orakel- und Heilungspriestern, die sich selbst auf Französisch als "Charlatan" bezeichnen). Wie wir später in anderen Orten sehen konnten, gibt es auf den meisten Märkten eigene Abteilungen für diese Waren.
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Bei unserer Visite des Anwesens von Hounnon Paul Akapo in Zevié erklärte uns dieser ausführlich, wie er mithilfe traditioneller Medizin, aber auch unter Mitwirkung der Vodun (die verschiedenen Gottheiten / Geister) heilt oder Probleme des täglichen Lebens löst. Hier sehen wir ihn in seinem Schrein mit den Repräsentationen einiger Vodun, Überresten von diesen dargebrachten Opfern und einem Stapel von schriftlichen Bitten an die Vodun, die von diesen erledigt worden sind.
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Bei der Teilnahme an der Eröffnungszeremonie des traditionellen Neujahrsfestes der Ge in Glidji-Kpodji (Epe Ekpe – Kpesosso) kam es zu einer Begegnung mit der politisch gespannten Lage: Ein Streit unter zwei Priesterschaften um das Recht, den Stein, der als Orakel für das Neue Jahr dient, aus dem heiligen Wald zu holen, eskalierte, und es kam zu einer Massenpanik unter den anwesenden Vodussi (Vodu-Adeptinnen). Die Priesterschaft, die Unterstützung von der bei den Ge ungeliebten Regierung bekam, habe nicht das Recht dazu, wurde uns danach erklärt. Zuvor waren die Ansprachen von Regierungsvertretern bereits durch laute Gegenrufe gestört worden. Im Bild: Eine Gruppe von Ge-Vodussi (Bräute des Vodun)
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Hinter den Kulissen des Festes, bei den Schreinen der Vodun, zeigt sich die adaptive Kraft der westafrikanischen Religionen. Indische Gottheiten (hier: Ganesha und Shiva), deren Verehrung mit indischen Kontraktarbeitern in die Region Einzug gehalten hatte, sind in die "Panthea" aufgenommen worden, v.a. im Kult von Mami Wata, einer weit verbreiteten Meeres- und Fruchtbarkeitsgöttin, die ihren Anhängern Wohlstand verheißt. Es wäre falsch, solche Transformationsprozesse als "synkretistisch" zu bezeichnen. Vielmehr werden Elemente fremder Kulturen zum Ausdruck der eigenen religiös-kulturellen Matrix gebraucht, wie viele religionsethnologische Untersuchungen gezeigt haben.
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In Ouidah besichtigten wir die üblichen touristischen Stätten (Sklavenroute, Memorial von Zoungbodji, Temple de Pythons, Forêt Sacrée). Im Zuge einer Audienz beim offiziellen Oberhaupt aller Vodun-Kulte konnten wir an einem Ritual für einen Vodun teilnehmen, dessen Name uns als "Adanve" angegeben wurde. Bei den Péda, der hauptsächlichen Ethnie im historischen Königeich Ouidah (engl.: Whydah), war "Adanhwue" der Name für eine der beiden Zwillinge im Fall einer weiblichen Zwillingsgeburt. Auf dem hier rechts abgebildeten Gewand – das Bild ist im Innenhof des Anwesens des Vodun-Chefpriesters vor dem Ritual aufgenommen – sind Heviesso (der Vodun von Donner und Blitz) und Dan (der Vodun des Regenbogens, mit der Python assoziiert) dargestellt.
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In Westafrika ist die kultische Verehrung von Zwillingen weit verbreitet. Zwillingsfiguren werden angefertigt, um – wenn die Zwillinge getrennt sind oder einer verstorben ist – eine der Figuren wie eine lebende Person zu behandeln. Es gibt eigene jährliche Feste für die Zwillinge (z.B. in Ouidah). Frauen, die Zwillinge geboren haben, tragen die Figuren bei öffentlichen Anlässen, wie die Frau hier bei Kpesosso.
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Zangbeto, der Nachtmensch, war der traditionelle Nachtwächter im Königreich Dahomey. Es wird behauptet, dass unter den eindrucksvollen Strohkegeln keine Menschen sind, sondern dass sie von Totengeistern bewegt werden.
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Bei einem TamTam Zangbeto, bei dem getrommelt und getanzt wird und die Masken vorgeführt werden (sie drehen sich im Kreis und erinnern etwas an Luftkissenboote), wird auch immer gezeigt, dass kein Mensch unter der Maske ist. Auch heuer konnten wir uns wieder davon überzeugen.
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Legba, der Vodun der Kreuzwege, ist der universale Dolmetscher zwischen den verschiedenen Vodun und ihren Bereichen. Die Trickster-Gottheit kann einem Wege öffnen, wenn man sie recht behandelt, aber sie auch verschließen. Legba bewacht die Häuser und Dörfer. Man findet seine Repräsentationen – meist einfache abstrakte Köpfe aus Zement – an Hauseingängen und vor den Dörfern. In den Ritualen muss er, der die Verbindung zwischen dieser Welt und der Welt der Götter, Geister und Ahnen herstellt, zuerst angerufen werden. Das Bild zeigt den Tolegba des Dorfes, in dem wir die Zangbeto gesehen haben.
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In Ouidah konnten wir auch einen Auftritt der Egungun, Maskentänzern, die bei den Yorùbá die Geister der Verstorbenen repräsentieren, beobachten.
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Das von uns besuchte Fest wurde im Rahmen einer umfänglichen Begräbniszeremonie für eine Familie abgehalten, ein Totengedenken, bei dem der Ahnen schlussendlich von einer Egungun-Maske inkorporiert und als anwesend gedacht wird.
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Als Totengeister sind die Egungun ambivalent und haben durchaus gefährliche Aspekte. Sie werden von Kultmitgliedern begleitet, die ihren Aktionsradius mit Stöcken einschränken. Dies führt zu überaus dynamischen Interaktionen. Früher durften Frauen die Egungun nicht sehen, und bei bestimmten Anlässen werden noch heute Nichteingeweihte geschlagen, wenn sie die Egungun zufällig beobachten.
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In "Masken", die den ganzen Körper verdecken, stecken immer Männer, während die Vodussi, die die Vodun in Trance empfangen, stets weiblich sind (Männer, die Medien sind, haben im rituellen Kontext eine weibliche Rolle). Die Genderkonstruktion baut sich auf dem Gegensatz "Enthaltenes (m) – Enthaltendes (w)" auf. Das Farbenspiel, das durch die wirbelnden Tanzbewegungen hervorgerufen wird, gehört zu den "Wundern", die die Egungun wirken.
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Nach Besichtigungstouren in Abomey und Porto Novo sowie einem Besuch des Wallfahrtsortes des Christianisme Celeste in Seme (inkl. Visionen über die einzelnen Gruppenmitglieder) ging es wieder nach Lomé, von wo aus noch Kpalimé und Togoville besucht wurden. Togoville, früher nur "Togo", ist der Ort, der (über das frühere deutsche Protektorat Togo) dem ganzen Land den Namen gegeben hat. Außerdem befindet sich dort eine Wallfahrtskirche, die darauf zurück geht, dass eine Vodussi dort eine Marienerscheinung hatte (Maria ist über das Wasser des Lac Togo gegangen, wir haben es bevorzugt, in einer "Pirogue" gerudert zu werden). Auch Johannes Paul II hat bei seiner Afrikareise Togoville besucht.
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In Togoville besuchten wir die Priesterin des Heiligen Waldes (forêt sacrée), die uns zu einem längeren Gespräch zur Verfügung stand. Zusammen mit einem Bokono hat sie einigen Mitgliedern der Gruppe Orakel gestellt. Frauen dürfen das Fa-Orakel (ein geomantisches System) nicht durchführen, wir konnten uns aber überzeugen, dass sie in der Interpretation der erzielten Figuren und in der Durchführung der dadurch anempfohlenen Rituale eine wichtige Rolle gespielt hat. Unter den letzteren war besonders eine größere Zeremonie bemerkenswert, die nach Anbruch der Nacht vor dem Tor des Anwesens der Priesterin für einen der Mitgereisten durchgeführt worden ist. Im Bild: Das für den Exkursionsleiter tagsüber durchgeführte Ritual, das den Geist seines verstorbenen Vaters zu seinen Gunsten beeinflussen sollte.
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Vor dem Ritual wird eine rituelle Waschung der Person vorgenommen, für die das Ritual durchgeführt wird (der ganze Körper wird dabei gewaschen). Die Assistentin der Priesterin bereitet das Wasser dafür vor.
Mittlerweile sind wir wieder in Österreich. Da der "Kulturschock" beim Heimkehren meist größer ist als beim Hinfahren, brauchten wir einige Zeit, um uns wieder einzugewöhnen. (Fotos: Stephanie Mittendorfer und Franz Seilern)
Die Exkursion, welche sechs Studierende vom 7. bis 24. September 2012 nach Togo und Benin führte, wurde vom Institut für Religionswissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät organisiert. Exkursionsleiter war Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Hans Gerald Hödl, Vizedekan der Katholisch-Theologischen Fakultät.
Lesetipp: Hödl, Hans Gerald: "By the Power of the Holy Ghost. The Blurred Line Between 'Liturgy' and 'Magic' in the Rituals of the Celestial Church of Christ" (pdf) in: Ralph Hood, Jr./Dominika Motak (Eds), Ritual: New Approaches and Practice Today. Kraków 2011, 19-50.