Vorlesung zum 100. Todestag von Joseph Unger
Redaktion (uni:view) | 07. Mai 2013Er war einer der bedeutendsten österreichischen Juristen seiner Zeit. Anlässlich seines 100. Todestags organisierten die Juristen Paul Oberhammer und Franz-Stefan Meissel am 2. Mai die Joseph-Unger-Vorlesung. Am Podium und im Publikum saßen hochkarätige VertreterInnen aus Justiz und Wissenschaft.

Der österreichische Rechtswissenschafter Joseph Unger (1828-1913) hat nicht nur im Zivilrecht, sondern auch als Parlamentarier, Minister und Reichsgerichtspräsident das Rechtsleben der Donaumonarchie entscheidend mitgeprägt. Sein 100. Todestag wurde zum Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem dispositiven Recht aus historischer und geltend-rechtlicher Perspektive.

Paul Oberhammer (links), stv. Vorstand des Instituts für Zivilverfahrensrecht, und Franz-Stefan Meissel (rechts), stv. Vorstand des Instituts für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte, organisierten anlässlich des Todestags am 2. Mai 2013 eine Joseph-Unger-Vorlesung in den Räumlichkeiten des Bundesministeriums für Justiz.

Franz-Stefan Meissel führte mit Bemerkungen zur Biographie Ungers in die Veranstaltung ein: Unger, der Spiritus Rector der Historischen Rechtsschule in Österreich, repräsentiere gleichsam die "Gründerzeit" der Jurisprudenz der Donaumonarchie im 19. Jahrhundert und stehe für eine geglückte Synthese von "Theorie" und "Praxis" in der Rechtsentwicklung.

Wolfgang Ernst von der Universität Zürich sprach als Festredner über "Dispositives Gesetzesrecht für den Vertrag – Geschichte und Funktion". Die Geburtsstunde des dispositiven Rechts setzte Ernst bei der Ordnung des Privatrechts durch Justinian fest. Für die Rechtsentwicklung im Mittelalter betonte er die Bedeutung der scholastischen Bearbeitung des Rechtsstoffs, die oft unterschätzt werde. "In allen modernen Kodifikationen findet sich dispositives Recht bzw. Ergänzungsrecht. Das Ergänzungsrecht ist somit ein 'ubiquitäres Strukturelement' des Privatrechts", so Ernst. Der Geltungsgrund des dispositiven Rechts habe sich im Laufe der Geschichte aber geändert: War es zuerst die bona fides und später "das Wesen" bzw. "die Natur" des jeweiligen Vertrages, kam man schließlich über Konstruktionen wie den "hypothetischen Parteiwillen" zur Anwendung der Ergänzungsregeln. Heute befriedigt das dispositive Recht den "Normhunger" der Gesellschaft im privatrechtlichen Bereich.

Auf den Vortrag folgte eine Podiumsdiskussion. Im Bild Constanze Fischer-Czermak, stv. Vorständin des Instituts für Zivilrecht, und Josef Aicher, Vorstand des Instituts für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht.

Am Podium diskutierten außerdem Rechtsanwalt Hans F. Hügel (links), Georg Kathrein, Leiter der Zivilrechtssektion im Bundesministerium für Justiz (rechts), sowie Irmgard Griss, Präsidentin des OGH i.R, und brachten ihre Erfahrungen und Perspektiven aus der Gesetzgebung und Praxis ein.

Organisator – und Moderator der Podiumsdiskussion – Paul Oberhammer bedankte sich bei Wolfgang Ernst und den PodiumsteilnehmerInnen.

Josef Aicher sprach über die Schaffung von Ergänzungsnormen durch intermediäre Gewalten: Er bestätigte anhand der Heranziehung der ÖNORMen im Bauvertragsrecht die These Ernsts, dass in Zukunft vermehrt "independent regulators" dispositives Recht festlegen werden. "Diese könnten neutraler und lösungsorientierter arbeiten, als der oft überforderte und teils indifferente parlamentarische Gesetzgeber", so Ernst.

Rechtsanwalt Hügel schilderte die ambivalente Sicht auf dispositives Recht aus der Perspektive der Anwaltschaft: Bei der Aufsetzung von Unternehmenskaufverträgen versuchen österreichische Rechtsanwälte möglichst zu verhindern, dass das dispositive Recht zur Anwendung kommt. Stattdessen sollen die Verträge sämtliche Aspekte des Vertragsverhältnisses regeln und eine eigene, geschlossene Rechtsordnung darstellen. "Das dispositive Recht hat den Nachteil, dass es besonders unübersichtlich und zudem mehrspurig ist", so Hügel und ergänzt: "In anderen Bereichen, etwa im GmbH-Recht, ist das dispositive Recht sehr praxisnah. Daher könne ohne weiteres auf komplizierte vertragliche Regelungen verzichtet werden."

Fischer-Czermak verteidigte das dispositive Recht. Auf Ernsts Aussage, es werden zwei Aufgaben fälschlicherweise vermengt, wenn bei der Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen ein Vergleich mit nachgiebigem Gesetzesrecht vorgenommen wird, antwortete Fischer-Czermak: "Der Gesetzgeber reagiert zu langsam und das Recht hinkt somit 'hinten nach'." Sie sprach sich für die Setzung von Leitlinien in Form von dispositivem Recht durch den Gesetzgeber aus: "Dieser blickt 'nach vorne', während Richter ihren Blick 'nach hinten' wenden, um konkret aufgekommene Probleme zu lösen."

OGH-Präsidentin i.R. Irmgard Griss strich die höhere Flexibilität der RichterInnen bei der Schaffung von dispositivem Recht hervor: "Richter schauen nicht nur nach hinten, sondern richten sich nach dem objektiven Standpunkt; sie wissen daher nicht weniger als der Gesetzgeber." Griss räumte allerdings ein, dass es Fragen gibt, die bei RichterInnen Überforderung auslösen, so etwa die mietrechtliche Frage danach, wer die Kosten einer Therme zu tragen hat. "Hier muss der Gesetzgeber einschreiten, um den Richtern Leitlinien vorzugeben." Allgemein sei die Rechtssetzung durch den parlamentarischen Gesetzgeber vor folgendes Problem gestellt: einem "Zuwenig" an Zeit stehe ein "Zuviel" an Einfluss von Interessengruppen gegenüber.

Sektionschef Georg Kathrein definierte vier Säulen des Zivilrechts: Die Kautelarpraxis, die Rechtswissenschaft, die Rechtssprechung und die Gesetzgebung. Die Rechtsprechung sei die stärkste Säule, dies auch aus der Perspektive des Justizministeriums. "Wesentlich für die Stärke der Rechtsprechung sind die Kleinschen Prozessgesetze, an deren Schaffung Unger mittelbar beteiligt war. Das Gesetzesrecht ist im Zusammenhang mit Verträgen 'vernünftig', weil es ein 'Netz gibt'", so Kathrein. Es sollen jedoch primär gefestigte Ergebnisse der Rechtsprechung zu Gesetzen gemacht werden. Die Gesetzgebung als "letzte Säule" solle grundsätzlich Zurückhaltung üben.

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion kamen zahlreiche Diskussionsbeiträge und Fragen aus dem Publikum. Im Bild Beate Gsell von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Weiters sprachen der renommierte österreichische Rechtsgelehrte Franz Matscher, Christiane Wendehorst von Institut für Zivilrecht, Robert Rebhahn vom Institut für Arbeits- und Sozialrecht, Karl Hempel vom Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung, Horst Ehmann von der Universität Trier, Heinrich Honsell von der Universität Zürich und der Universität Salzburg sowie Johannes Stabentheiner, Abteilungsleiter in der Zivilrechtssektion des Bundesministeriums für Justiz.

Unter den Gästen der Veranstaltung fanden sich hochrangige VertreterInnen der Justiz wie Brigitte Schenk, Vizepräsidentin des OGH, und Herbert Pimmer, OGH-Senatspräsident sowie eine Reihe von RechtsanwältInnen und prominente WissenschafterInnen, wie Helmut Koziol, Peter Rummel, Peter Apathy, Nikolaus Benke, Thomas Simon, Brigitta Zöchling-Jud, Christian Rabl und Miloš Vec.

Wolfgang Ernst beantwortete die ihm gestellten Fragen und der Abend klang bei einem Empfang im Kleinen Festsaal des Palais Trautson aus.