"Unsere Plastik-Landschaft besser verstehen"
Redaktion (uni:view) | 04. Dezember 2018Plastik umgibt uns in fast allen Bereichen des Alltags. Zur Auftaktveranstaltung der Forschungsplattform PLENTY an der Universität Wien diskutierten ExpertInnen Ansätze, um die Funktionen und Auswirkungen von Kunststoffen auf die Gesellschaft und Umwelt besser zu verstehen.

Wie beeinflussen Kunststoffe, umgangssprachlich oft als Plastik bezeichnet, Umwelt und Menschen weltweit? Was können wir angesichts wachsender Produktionsraten von Kunststoffen gegen eine zunehmende Verschmutzung tun? Welche Narrative verbindet die Gesellschaft mit Kunststoffen? In den folgenden drei Jahren untersuchen Meeresbiologe Gerhard. J. Herndl, Umweltgeowissenschafter Thilo Hofmann und Wissenschafts- und Technikforscherin Ulrike Felt die ökologischen und gesellschaftlichen Implikationen des Kunststoffs im Rahmen der Forschungsplattform "PLENTY – Plastik in Umwelt und Gesellschaft".

Gerhard. J. Herndl, Leiter von PLENTY begrüßte die Gäste der Auftaktveranstaltung von PLENTY. Der Meeresbiologe hat gemeinsam mit Umweltgeowissenschafter Thilo Hofmann, stellvertretender Leiter, und Wissenschafts- und Technikforscherin Ulrike Felt, Co-Project Investigator, die Forschungsplattform initiiert. Ziel ist es, "Fragen zu Kunststoffen in Umwelt und Gesellschaft zu stellen, die wir nicht nur über unsere jeweiligen Forschungsgruppen alleine adressieren könnten", hob Herndl den Nutzen des gemeinsamen Arbeitens hervor.

Mit Forschungsplattformen wie PLENTY will die Universität Wien innovative Forschung und interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern, erklärte Jean-Robert Tyran, Vizerektor für Forschung und Internationales der Universität Wien, bei seiner Begrüßungsrede: "Wir wollen über die Plattformen neuen Forschungsideen Raum geben und ihnen Luft zum Atmen verschaffen."

Rund 80 Gäste, darunter viele Mitglieder des Forschungsverbundes Umwelt der Universität Wien, waren am 26. November der Einladung zur PLENTY-Auftaktveranstaltung in die Sky Lounge gefolgt. Der Forschungsverbund Umwelt war Ideengeber der im Jahr 2018 gegründeten Forschungsplattform "PLENTY - Plastik in Umwelt und Gesellschaft" – ein Beweis dafür, dass die Forschungsverbünde "als Brutstätten oder Inkubatoren für neue Forschungsvorhaben" dienen können, freute sich Vizerektor Jean-Robert Tyran.

"Die Plastik-Familie ist groß", erklärte Gastrednerin Olwenn Martin von der Brunel University London bei der Auftaktveranstaltung: Es gibt über 600 Kunststoffe. Zu den am häufigsten verwendeten gehören die Polyolefine – Polyethylen wie auch Polypropylen mit einem Anteil von rund 35 bzw. 24 Prozent. Die Umweltwissenschafterin spürte der Geschichte des langlebigen Kunststoffes und den wirtschaftlichen wie auch sozialen Triebkräften für seine umfassende Nutzung nach.

Man erwarte, führte Martin weiter aus, dass die Plastikproduktion in den nächsten Jahren noch massiv zunehmen und die Kunststoffindustrie ihre Suche nach neuen Märkten intensivieren wird. Auf Konsumentenseite stehe Plastik für Wegwerf-Gesellschaft und habe symbolischen Wert – "zwei Aspekte, warum wir bei Plastik in der Falle stecken". Es benötige nun ein Bewusstsein dafür, welche Auswirkungen Kunststoffe auf unsere Biosphäre haben.

"Das Problem ist weniger Kunststoff als solcher, sondern das Abfallproblem und die Plastikverschmutzung der Umwelt", argumentierte Georg Rebernig, Geschäftsführer des Umweltbundesamtes. Ein kategorisches "Nein" zu Kunststoffen sei schwierig; man müsse sich das je nach Anwendungsfall ansehen. Bei Mikroplastik wiederum sei – neben dem primären Mikroplastik, wie es in Zahnpasta oder Kosmetika enthalten ist – insbesondere der Abrieb von Autoreifen relevant; hier müsse man gezielt forschen.

Generell sei es wichtig, Kunststoff-Abfall zu vermeiden. Dafür benötige man auch politische Aufmerksamkeit. "Da ist in den letzten drei, vier Jahren jedoch auch einiges passiert." Rebernig nannte Beispiele wie die EU-Plastikstrategie oder die Stakeholder-Konferenzen auf europäischer Ebene. "Aber es gibt immer noch viel zu tun", so der Umweltbundesamt-Geschäftsführer.

Laut Studien lag die weltweite Kunststoffproduktion 2014 bei 311 Mio. Tonnen. Rund acht Millionen Tonnen gelangen jährlich laut dem UN-Umweltprogramm als Plastikmüll in die Ozeane. Gerhard J. Herndl berichtete von ersten Erfahrungen des Crowdfunding-Projektes Ocean Cleanup, welches seit etwa einem Monat im Nordpazifik Plastikmüll mit einer speziellen Technologie einfängt: "Das Konzept geht bisher weitgehend auf", so Herndl, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Initiative.

"Wir stoßen laut Studien durch den Verlust der Artenvielfalt, Klimawandel wie auch unseren Nitratkreislauf an planetare Grenzen", sagte Thilo Hofmann, stellvertretender PLENTY-Leiter und Leiter des Forschungsverbundes Umwelt. Bei der chemischen Verschmutzung sei das Ausmaß schlicht unbekannt. Hofmann betonte die Gefahren durch Zusatzstoffe (Additive) im Kunstsoff: Kunststoffe beinhalten z.B. Antioxidantien, Weichmacher, Stabilisatoren oder Farbpigmente, die durch Leaching freigesetzt würden. PVC enthält etwa bis zu 60 Prozent Phthalate, also einen Schadstoff, der auf das körperliche Hormonsystem einwirkt. "Plastik ist daher gewissermaßen eine undichte Rohrleitung, die Gifte in die Umwelt freisetzt."

"Bei Kunststoff gibt es heute meist Einblicke in einzelne Phänomene, aber es fehlt uns das Verständnis des Systems." Dafür benötige es die Zusammenarbeit vieler Disziplinen. Hier sei "PLENTY ein erster Schritt" – der Kreis von beteiligten Disziplinen müsse letztlich noch weitergezogen werden und z.B. auch die Wirtschaftswissenschaften, Industrie oder Politik berücksichtigen, so Thilo Hofmann: "Ansonsten verlieren wir zu viel Zeit, bis Lösungen gefunden werden."

Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt, Co-Project Investigator von PLENTY, verwies auf die historische Symbolkraft von Plastik – "Plastik als Projekt der 1960er Jahre, die Gesellschaft neu zu denken", welches lange sehr positiv mit Werten wie Demokratisierung und der breiten Verfügbarkeit konnotiert gewesen sei. "Plastik wurde ein Teil unseres kulturellen Gefüges", so Felt. Es sei eine Herausforderung, diese Erzählung mit einem neuen Narrativ zu überschreiben und sich so von spezifischen Anwendungen von Kunststoff trennen zu können.

"Es geht um unseren Massenkonsum, um unsere Wegwerf-Mentalität, aber es geht auch vor allem um ein neues Bewusstsein für den Umgang mit Plastik. Wo können wir auf Plastik verzichten? Wo benötigen wir es? Das müssen wir uns genauer anschauen und damit über eine grundlegende Reorganisation unserer Plastiknutzung nachdenken", so Felt.

In der Diskussion beteiligte sich das Publikum mit vielen Fragen, z.B. zur Giftigkeit von Kunststoff-Nanoteilchen oder auch nach politischen Handlungsmöglichkeiten. In der Forschung sei es wichtig, "die Plastik-Landschaft, in der wir leben, besser zu verstehen", meinten die ExpertInnen. Im Zuge von PLENTY wurden DoktorandInnenstellen im Bereich Biologischer Ozeanographie, Umweltgeowissenschaften und Sozialwissenschaften (Wissenschafts- und Technikforschung) besetzt. Neben den Wechselwirkungen von Plastik mit seiner belebten und unbelebten Umwelt in aquatischen Systemen soll in den nächsten drei Jahren auch untersucht werden, in welcher Weise Information und neue Wahrnehmung unsere Kunststoffnutzung und damit einhergehende Stoff-Flüsse potenziell verändern können. (Fotos: © Walter Skokanitsch, Text: Lena Yadlappali und Heidemarie Weinhäupl)
Die Forschungsplattform "PLENTY – Plastik in Umwelt und Gesellschaft" läuft von Mai 2018 bis April 2021 und ist aus dem Forschungsverbund Umwelt hervorgegangen. Mit Univ.-Prof. Dr. Gerhard Herndl, Univ.-Prof. Dr. Thilo Hofmann und Univ.-Prof. Dr. Ulrike Felt und ihren Teams haben sich ForscherInnen aus den Fakultäten für Lebenswissenschaften, für Sozialwissenschaften sowie für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie zusammengetan, um gemeinsam zu forschen.
- Forschungsplattform "PLENTY"
- Forschungsverbund Umwelt/Environmental Sciences Research Network (ESRN)
- Fakultät für Lebenswissenschaften
- Fakultät für Sozialwissenschaften
- Fakultät für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie
- Ankündigung der Auftaktveranstaltung von PLENTY im Medienportal der Universität Wien