ÜBER WEITER LEBEN – Geschichten aus Wien
Redaktion (uni:view) | 14. März 2018Was bedeutete es, einen "normalen" Alltag weiterzuleben? Im Film ÜBER WEITER LEBEN kommen 13 Holocaustüberlebende zu Wort, die nach Emigration, Konzentrationslager oder Verstecktsein nach Wien zurückkehrten. Am 9. März fand an der Universität Wien eine Würdigung der ProtagonistInnen statt.
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Rektor Heinz W. Engl, Melanie Malzahn, Dekanin der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, und der Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte, Oliver Rathkolb, bedanken sich bei den Ehrengästen, die durch ihr Einverständnis zur Mitwirkung das Projekt ÜBER WEITER LEBEN erst ermöglicht haben. Der "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland am 12. März 1938 sei für die Ehrengäste ein signifikantes und leidvolles Datum, das ihr weiteres Leben einschneidend verändert habe.
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Dekanin Malzahn betont die Verbundenheit der Wiener jüdischen Community mit der Stadt Wien und der Republik Österreich. Alle Mitwirkenden seien in Wien geblieben bzw. nach Wien zurückgekehrt, wo noch Jahrzehnte später ein Bewusstsein von Schuld und begangenem Unrecht die Ausnahme und nicht die Regel gewesen wäre. Ihre kritische Verbundenheit mit Österreich leiste für das Aufzeigen und die Bewusstmachung alter und neuer faschistischer Gefahren einen außerordentlich wichtigen Beitrag.
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Rektor Engl versichert den Ehrengästen und Mitwirkenden am Film, dass die Universität Wien ihren Beitrag zur Dokumentation eines der dunkelsten Kapitel der österreichischen Geschichte zu würdigen wisse und mit der erforderlichen Umsicht und Verantwortung dafür sorgen würde, das Bewusstsein daran aufrechtzuerhalten. Er verweist auf die anwesenden SchülerInnen der Gymnasien Rahlgasse und Feldgasse, die als VertreterInnen der jungen Generation die Erinnerungen der Mitwirkenden weitertragen und wachhalten würden.
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Der Rektor betont, dass viele MitarbeiterInnen mit der NS-Ideologie sympathisierten, aber eine noch viel größere Gruppe, darunter zahlreiche Studierende, unter weitreichenden Konsequenzen zu leiden hatte. Sie wurden von Arbeit bzw. Studium ausgeschlossen, akademische Titel wurden aus nichtigen Gründen aberkannt. Mit der wissenschaftlichen Begleitung durch das Institut für Zeitgeschichte und das Forum Zeitgeschichte stelle sich die Universität Wien seit vielen Jahren ihrer Geschichte und hat zahlreiche Projekte zu ihrer Aufarbeitung initiiert, die auch in der Zukunft weitergeführt werden.
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Oliver Rathkolb weist auf die Bedeutung von Oral History, die Erinnerungen von ZeitzeugInnen für die Geschichtswissenschaft, aber auch für einige sozialwissenschaftliche Disziplinen hin. Seit April 2017 gibt es einen Vollzugang zur ZeitzeugInnenvideodatenbank "Visual History Archives" der University of Southern California Shoah Foundation mit 50.000 Interviews in rund mehr als 120.000 Stunden.
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Die Erinnerungen der ZeitzeugInnen seien wichtiger Bestandteil einer modernen, demokratischen politischen Bildung im 21. Jahrhundert. Ihre Glaubwürdigkeit sei eine wesentlich größere als die trockene, nicht immer sehr empathische Analyse und Interpretation von WissenschafterInnen. Aus empirischen Studien sei bekannt, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoah eine notwendige Erinnerungsarbeit für die Gesellschaften Deutschlands und Österreichs leiste, aber auch in ganz Europa wesentlich für eine moderne, demokratische politische Kultur sei.
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Menschen mit einem offenen, kritischen Geschichtsbild über die totalitäre Vergangenheit seien auch jene Menschen, die in der Gegenwart wesentlich aktiver bereit seien, sich für eine parlamentarische Demokratie und für eine vorurteilsfreie Gesellschaft einzusetzen. Die Mitwirkenden am Film seien einerseits ZeitzeugInnen für diese schreckliche Vergangenheit, andererseits auch die BotschafterInnen für eine moderne demokratische Zukunft.
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Birgit Peter und Theresa Eckstein, Regisseurinnen des Films, erzählen dem Publikum über ihre Beweggründe für die Produktion: "Wir fragten uns, wie es möglich sein konnte, dass vertraute und bekannte Menschen, Nachbarn, Freunde, der Greissler von nebenan über Nacht jeglicher Rechte beraubt und als menschliches Freiwild durch die Stadt gehetzt werden konnten, jeglicher sadistischer Demütigung ausgesetzt werden konnten. Wir fragten uns, wo Zivilcourage war, wo eine entschlossene Gegenöffentlichkeit. Wir fragen uns, wo ist sie heute. Die Universität soll und muss ein Ort sein, an dem sich Gegenöffentlichkeit formiert."
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Abschließend richteten Schülerinnen und Schüler der Gymnasien Rahlgasse und Feldgasse einige im Rahmen ihres Unterrichts erarbeitete Fragen an die Ehrengäste. Im Dialog mit Gästen und Regisseurinnen fand die Veranstaltung einen gelungenen Abschluss.
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Alice Granierer, Lucia Heilman, Helga Pollak-Kinsky, Elfi Stern, Kitty Suschny, Paul Back, Leo Granierer, Kurt Rosenkranz, Robert Rosner, Alfred Schreier, Walter Stern, Otto Suschny und Herbert Schwarz (1925-2017) erzählten den Filmemacherinnen, Theresa Eckstein und Birgit Peter, ihre Lebensgeschichten. Im Zentrum stehen das Weiterleben nach dem Holocaust und das Zurückkehren nach Wien. Die vollständigen Interviews mit englischen Untertiteln werden gerade fertiggestellt und für Forschung und Schulunterricht national und international zur Verfügung gestellt. Ziel ist die Erarbeitung eines Dokumentarfilms, um ein noch breiteres Publikum zu erreichen. (Alle Fotos: Universität Wien/derknopfdruecker.com)
Für alle, die nicht dabei sein konnten: Hier gibt es den Videomitschnitt der Veranstaltung zum Nachschauen.
ÜBER WEITER LEBEN ist ein Interviewprojekt von Studierenden und AbsolventInnen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, der Filmakademie Wien und des Archivs der Theater-, Film- und Medienwissenschaft mit 13 jüdischen WienerInnen.