Katastrophen – Triebkraft und Ende der Evolution
Gastbeitrag von Erhard Oeser | 28. März 2012Im Dossier "Naturkatastrophen" veröffentlichen Vortragende der Ringvorlesung "Naturkatastrophen und ihre Bewältigung" ihre Beiträge. Erhard Oeser, Experte für historische Erdbeben, wirft dabei einen etwas anderen Blick auf diese Naturereignisse: Welche Bedeutung haben Katastrophen im Kontext von Millionen Jahren Erdgeschichte?
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Evolution als Abfolge von KatastrophenAus Katastrophen können wir lernen – zugleich stellt jede Katastrophe auch den Beginn einer Erneuerung dar. Verstärkt wird eine positive Einschätzung von Katastrophen als Motor für neue Entwicklungen, wenn man solche Naturereignisse im Rahmen der Millionen Jahre langen Evolution der Lebewesen betrachtet. Darauf folgt sogar die Frage nach der Notwendigkeit von Katastrophen. Diese Wahrnehmung einer "positiven Seite" von Naturkatastrophen ist im Laufe der Geschichte der Menschheit immer stärker geworden. So sprechen heutzutage BiologInnen und PaläontologInnen von "Wendezeiten des Lebens", die durch das Massenaussterben von ganzen Arten und Gattungen von Lebewesen gekennzeichnet sind. Und AstronomInnen und AstrophysikerInnen untersuchen "kosmische Katastrophen", die nicht nur in ferner Vergangenheit stattgefunden haben, sondern auch heute noch durch Einschläge von großen Himmelskörpern, wie Kometen und Asteroiden, unsere Erde bedrohen können. Aber es waren gerade derartige weltweite Vernichtungskatastrophen, die zur Entstehung neuer Lebenswelten geführt haben. So verdankt auch der Mensch seine Existenz dem Aussterben der Dinosaurier, ohne deren Untergang die Entwicklung der Säugetiere niemals hätte stattfinden können.
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Rekonstruktion der historischen Erdbebentheorien als QuellenkritikNaturkatastrophen in der Geschichte zu untersuchen beinhaltet aber weit mehr als ihre Dokumentation. Im Rahmen der historischen Erdbebenforschung etwa ist es von Bedeutung, auch die Entwicklung der Erdbebentheorien zu untersuchen. Denn es sind nicht nur alle historischen Beschreibungen dieser Ereignisse von theoretischen Reflexionen begleitet, sondern es wurden bereits alle Beobachtungen vor dem Hintergrund von Theorien gemacht. Bei solchen vorweggenommenen theoretischen Überlegungen ist es möglich, dass Verfälschungen der Beobachtungsdaten auftreten, die dann nur durch die Korrektur oder totale Ersetzung der falschen Theorie beseitigt werden können. Das hat bereits vor mehr als einem Jahrhundert der Berliner Erdbebenforscher Wilhelm Branco deutlich ausgesprochen, wenn er im Hinblick auf seine eigene Disziplin sagt: "Im Reiche der Wissenschaften sind alle Wege, die zur Erkenntnis führen, dicht bedeckt mit totgeschlagenen Hypothesen." Im Bild: das zerstörte San Francisco nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 1906.
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"Katastrophe Mensch"Aber mit dem Auftreten des Menschen geht auch eine neue, bisher unbekannte Art der Katastrophen einher: die technische Katastrophe. Immer deutlicher wird erkennbar, dass jeder technische Fortschritt auch das Risiko von Katastrophen vergrößert. Das zeigt nicht nur der historische Untergang der Titanic am 14. April 1912 (im Bild: die RMS Titanic am 10. April 1912), sondern auch die modernen technischen Katastrophen, wie der spektakuläre Absturz einer Concorde am 25. Juli 2000 oder die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 25. April 1986, deren Folgeschäden bis heute noch nicht absehbar sind. Dass die nuklearen Unfälle zu Recht am meisten gefürchtet sind, hat sich heutzutage wieder in Japan gezeigt. Für Japan bedeutet die durch das Erdbeben und den anschließenden Tsunami ausgelöste Reaktorkatastrophe des AKW Fukushima im Unterschied zu den früheren Erdbeben, wie z.B. Tokio 1912, eine Katastrophe, aus der man nichts mehr lernen kann. Nukleare Unfälle müssen als die schlimmsten Umweltkatastrophen angesehen werden, da es zumindest für das betroffene Gebiet, die sogenannte Todesszone, für viele Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende das Ende jeder Entwicklungsmöglichkeit bedeutet. Abgesehen davon müssen auch die sich überall verbreitenden Endlagerstätten des Atommülls als Todesszonen betrachtet werden, die kommende Generationen in die Rolle von "Wächtern" dieses strahlenden Abfalls zwingen.
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Lesetipps:
Oeser, Erhard:
1) "Historische Erdbebentheorien von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts". Abhandlungen der Geologischen Bundesanstalt, Wien 2003.
2) "Katastrophen: Triebkraft der Evolution". Primus Verlag 2011.
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Erhard Oeser, Emeritus an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften, beschäftigt sich seit 1987 – in diesem Jahr fand der erste Workshop der im Rahmen der "European Seismological Commission" (ESC) errichteten Working Group on Historical Earthquake Data in Wien statt – mit historischen Erdbebentheorien von der Antike bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Erweitert wurde dieses Forschungsfeld anlässlich eines Gastaufenthalts am Freiburg Institute for Advanced Studies der Universität Freiburg (FRIAS) um die allgemeine Frage nach dem Verhältnis von Katastrophentheorie und Evolutionstheorie.