Exkursion: Kulturelle Schnittstelle Irak und Türkei
Gastbeitrag des Instituts für Orientalistik | 05. November 2013Eine Exkursion des Instituts für Orientalistik führte vom 4. bis 19. Oktober 2013 in eine der geschichtlich bedeutsamsten "kulturellen Schnittstellen" der Welt: in die Südost-Türkei und den Nord-Irak. Die Region ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt an Sprachen, Religionen und kulturellen Traditionen.

Einen besonderen Aspekt der Exkursion stellte die enorme Sprachenvielfalt dar, die sich in der Region Südost-Türkei und Nord-Irak bis in die frühesten historischen Epochen nachweisen lässt. Es war faszinierend zu beobachten, wie viele Menschen sich problemlos auf Kurdisch, Türkisch oder Arabisch unterhalten können. Dieser gelebten Mehrsprachigkeit steht eine starke Ideologisierung von Sprachen gegenüber. Im Nord-Irak wird Arabisch zusehend aus dem öffentlichen Raum verdrängt. In der Türkei ist das Kurdische nun legal, als Schriftsprache spielt es allerdings weiterhin eine nur marginale Rolle. Kleine Sprachen wie das Aramäische oder archaische arabische Dialekte drohen bald in Vergessenheit zu geraten, denn die großen Sprachen beherrschen Ausbildung und Medien und sind daher für die Jungen attraktiver.

Die Mannigfaltigkeit der Schriftsysteme, sei es in historischen Inschriften oder auf modernen Straßenschildern, ist ebenso allgegenwärtig. So wird Kurdisch im Irak mit einem modifizierten arabischen Alphabet geschrieben, in der Türkei jedoch in Lateinschrift. Hie und da findet man Aufschriften in aramäischer Schrift, vor allem auf christlichen Gebäuden. Viel Freude hatten wir mit dem Entziffern von historischen Inschriften: Babylonisch in Keilschrift auf der berühmten Stele des Königs Nabonid oder die oft sehr blumigen Bauinschriften in verschiedenen Schriftstilen des Arabischen. Eine Besonderheit der Region ist das auf diesem Foto zu sehende Quadratkufi, hier auf einem Minarett in Mardin. Was aussieht wie ein geometrisches Muster, ist in Wirklichkeit ein Vers aus dem Koran.

Die traditionellen Altstädte mit ihren verwinkelten, engen Straßen und den für den gesamten Vorderen Orient typischen Sackgassen sind durch die Anforderungen der modernen Zeit fast überall in ihrer Struktur bedroht. Da für Autos ungeeignet, wandern viele Geschäfte in die Neustädte ab; der dadurch bedingte Kaufkraftverlust verschärft das Problem. In Erbil, der Hauptstadt der irakischen Region Kurdistan, wurden (wie hier zu sehen ist) Teile des alten Bazars dem Verkehr und einer gigantischen Shoppingmall geopfert. Daneben bemüht man sich jedoch um eine Totalrestaurierung des alten Zitadellenviertels, das in eine Art lebendes Museum umgewandelt und UNESCO-Weltkulturerbe werden soll.

Ein Höhepunkt der Exkursion war der Besuch des Kurdischen Regionalparlaments in Erbil. Das Parlament besteht seit dem Autonomieabkommen 1970, stand aber stark unter dem Einfluss Saddam Husseins und hatte kaum Kompetenzen. In der neuen Verfassung des Irak 2005 wurde der Status der Region verankert. Damit sind die Provinzen Sulaymaniyya, Erbil und Dohuk nominell autonom und verfügen über ein Parlament und eine Regionalregierung. Die beiden stärksten Parteien KDP und die PUK waren jahrzehntelang identitätsstiftend und dominieren bis heute das politische Geschehen. Vertreter der beiden Parteien beantworteten geduldig die zahlreichen Fragen der Studierenden zur politischen Lage der Region und den jüngsten Parlamentswahlen im September 2013.

Die jahrelange Unterdrückung und der Terror des Saddam-Regimes gegen die kurdische Bevölkerung sind noch immer stark im Bewusstsein der irakischen Kurden präsent und wurden zu einem erheblichen und allerorts spürbaren Teil der kurdischen Identität. Der Verschwundenen und Toten aus dieser Zeit gedenkt man auf verschiedenste Weise. Im berüchtigten Amna Suraka Gefängnis in Sulaymaniyya, das heute ein eindrucksvolles und gut geführtes Museum ist, erinnern 182.000 in einen Raum geklebte Spiegelscherben an die Opfer von Saddams Anfal-Kampagne in den 1980er-Jahren. Im Zuge dieses Vernichtungsfeldzugs gegen die kurdische Bevölkerung wurden auch tausende Dörfer dem Erdboden gleichgemacht.

Die Stadt Halabja in der gleichnamigen nordöstlichen Provinz im Irak nahe der iranischen Grenze erlangte traurige Berühmtheit, da sie den grausamen Höhepunkt von Saddam Hussains Anfal-Kampagne markierte. Unter dem Kommando von Saddams Cousin Ali Hasan al-Majid, genannt "Chemical Ali", griffen irakische Flugzeuge am 16. März 1988 die Stadt Halabja und ihre Umgebung mit chemischen Waffen an, um die angebliche Kollaboration der Peshmerga, der kurdischen Freiheitskämpfer, mit dem Iran zu unterbinden. Dabei verloren 5.000 Kurdinnen und Kurden ihr Leben, 7.000 wurden schwer verletzt. Heute mahnen Denkmäler und Massengräber am Friedhof von Halabja an die tragischen Ereignisse von damals. Die traumatisierte Bevölkerung bewies Hartnäckigkeit und baute in der Nähe ein neues Halabja auf.

Am Anfang des fast 50 Kilometer langen ältesten Aquädukts der Weltgeschichte befinden sich mehrere Felsreliefs des assyrischen Königs Sanherib, der dieses Bauwerk 691 v. Chr. einweihte. Es sicherte die Wasserversorgung seiner Hauptstadt Niniveh. Heute geht die Forschung davon aus, dass sich ebendort – und nicht in Babylon – die "Hängenden Gärten" der Semiramis, eines der sieben "Weltwunder der Antike" befanden. Pflanzlöcher für Bäume in den Felsen bei Bavian könnten diese "Aufforstungsversuche" Sanheribs illustrieren.

Lalish im Nordirak ist das Hauptheiligtum der Yeziden. Das wichtigste Fest der Yeziden ist "Cejna Cema’îye", die Wallfahrt zu den Gräbern ihrer Heiligen, die wir während unserer Exkursion besuchen konnten. Die Yeziden sind eine hauptsächlich kurdisch-sprachige religiöse Minderheit im Irak, der Türkei und Syrien, ihre Anzahl wird auf 200.000 bis über eine Million geschätzt. Die Glaubensinhalte dieser synkretistischen, monotheistischen Religion, die Elemente aus dem Zoroastrismus und dem Sufismus vereint, werden mündlich tradiert und sind daher regional sehr uneinheitlich.

Aufgrund ihrer Verehrung des Pfau-Engels werden die Yeziden von Außenstehenden auch als "Teufelsanbeter" bezeichnet. Sie waren im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Verfolgungen ausgesetzt und sind auch in der jüngeren Vergangenheit wieder vermehrt Opfer politischer Spannungen und konfessioneller Gewalt geworden: Ein Höhepunkt der Wallfahrt nach Lalish ist der Besuch des Grabes von Scheich Adi. Pilgerinnen und Pilger knüpfen hier Knoten in die bunten Tücher auf seinem Sarkophag, um damit dem Heiligen ihre Wünsche anzuvertrauen.

Zu Fuß überquerten wir die Grenze vom Irak in die Türkei. Damit begann der zweite Teil unserer Exkursion, der uns in die Region um Midyat, Mardin, Urfa und Diyarbakır führte. Am schwer bewachten Grenzübergang wurden wir hautnah Zeugen davon, dass der Großteil der Importwaren der Autonomieregion Irakisch-Kurdistan aus der Türkei stammt: Kilometerlange LKW-Kolonnen warten tagelang auf eine Einreise in den Irak. Die Grenze war nicht nur sprachlich zu spüren – die Landschaft wurde wieder grüner, die omnipräsente Flagge der Autonomieregion Kurdistan verschwand und historische Gebäude waren wieder in viel größerer Anzahl zu sehen.

Die Architektur islamischer Sakralbauten weist viele regionale Spezifika auf. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass die von uns bereiste Gegend der Türkei um einige Jahrhunderte früher unter muslimische Herrschaft kam als der Rest Anatoliens. Fast alle Bauten wie hier die Große Moschee in Mardin sind aus Steinquadern errichtet; typisch sind die aus dem Spätmittelalter stammenden zylinderförmigen Minarette sowie die gerippten Kuppeln über dem zentralen Teil der Moscheen. Der vorherrschende Moscheetypus folgt dem Vorbild der Großen Moschee von Damaskus und ähnelt daher spätantiken Basiliken – ganz im Gegensatz zu den osmanisch-türkischen Moscheen mit ihren Zentralkuppeln.

Hasankeyf, arabisch Hisn Kayfa, ist ein verträumtes und malerisches Städtchen direkt am Tigris. Inmitten des fruchtbaren Halbmondes gelegen hat es eine lange und bewegte Geschichte. Erste archäologische Spuren reichen bis zu 11.000 Jahren zurück. Die erste Besiedelung der von Menschenhand kreierten Höhlen in den Kalksteinfelsen wird im 8. Jahrtausend v.Ch. vermutet. Noch in den 1970er-Jahren waren diese Höhlen bewohnt, bis die Bewohner in Häuser umgesiedelt wurden, um ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt zu erlangen.

Im Zuge des "Südostanatolienprojekts" soll in der Region der Ilisu-Stausee entstehen, der 80 Ortschaften und unzählige erforschte wie noch unerforschte archäologische und kulturhistorische Stätten überfluten würde. Abgesehen von dem unermesslichen kulturellen und wissenschaftlichen Verlust, birgt das Vorhaben auch völkerrechtliche Probleme, da die Türkei mit der Aufstauung des Tigris Kontrolle über die Wasserversorgung des Irak hätte. Heute entwickelt sich Hasankeyf zunehmend zu einem beliebten Ausflugsziel für Binnentouristen, obwohl die Felszitadelle und die alte Stadt derzeit leider wegen Felssturzgefahr geschlossen sind. Vielleicht schürt gerade der drohende Untergang der Stadt die Neugier.

Der Tur Abdin, der "Berg der Diener Gottes", wie der aramäische Name der Gegend übersetzt heißt, bildet in der Provinz Mardin ein etwa 1.300 Meter hohes Plateau. Seit der frühbyzantinischen Zeit war die Gegend in erster Linie von Christen bewohnt, später kamen mehr und mehr sunnitische Kurden dazu. Diverse Verfolgungswellen über mehrere Jahrhunderte hinweg ließen die Zahl der in der Region lebenden Christen erheblich schrumpfen, viele flohen ins arabische oder europäische Ausland und von den 80 im Mittelalter bekannten Klöstern sind heute nur noch sechs bewohnt. Im mehr als 1.500 Jahre alten Kloster Mor Gabriel konnten wir uns unter anderem im Entziffern syrisch-aramäischer Liturgiebücher versuchen.

Eine archäologische Sensation war in den letzten Jahren die Ausgrabung der kreisförmigen Anlagen des Göbekli Tepe, die ca. 10.000 v. Chr. Errichtet wurde. Ohne begleitende Siedlung dienten sie als Versammlungs- und Kultplatz. Der ungeheure logistische Aufwand wie die reliefverzierten T-förmigen Pfeiler haben, wie die Ausgräber den ExkursionsteilnehmerInnen erläuterten, zu wichtigen Modifikationen des herrschenden Konzepts der neolithischen Revolution geführt. Das Symbolsystem der Darstellungen bleibt noch undeutlich, auch wenn die Tatsache, dass ausschließlich männliche Tiere dargestellt wurden, signifikant gewesen sein muss.

Unweit der Stadt Urfa liegt die sehr alte Siedung Harran, deren Jahrtausende alter Name etwa "Karawanen-(Station)" bedeutet, passend für einen Verkehrsknotenpunkt, der die obermesopotamischen Ebenen mit Anatolien und dem Zagrosgebirge verbindet. Über Jahrtausende war Harran eine Stadt des Mondkultes; die Bibel nennt sie als Station Abrahams auf seinem Zug von Mesopotamien ins "gelobte Land". Monumente des letzten neubabylonischen Königs Nabonid (555- 539 v. Chr.) lassen die Bedeutung der mesopotamischen Gestirnskulte erkennen, die in diesem Gebiet bis ins 12. Jhd. n. Chr. weiterlebten – bei den Sabiern – und Kenntnisse der mesopotamischen Astronomie /Astrologie überlieferten.

Im Bereich der Zitadelle ließen sich während der vergangen Jahrhunderte arabisch-sprachige Beduinen nieder. Ihre aus Lehmziegeln errichteten Häuser haben ein bienenkorbartiges Aussehen – eine Struktur, die sehr alt ist und sich archäologisch in der Frühgeschichte im ganzen Mittelmeerraum nachweisen lassen. Jedes Gehöft besteht aus mehreren überkuppelten Räumen und ist meist L-förmig um einen Hof angelegt. Diese Bauweise ist ideal für die extrem heißen Sommer der Gegend, da das Innere durch interne Luftzirkulation das ganze Jahr über angenehme Temperaturen aufweist. Trotz ihrer vielen Vorteile werden die Bienenkorbhäuser heute nicht mehr neu errichtet, sondern durch eintönige Betonbauten ersetzt.

Die Bedeutung der alten Stadt Urfa spiegelt sich auch in der Überlieferung der abrahamitischen Religionen: Nach der muslimischen Überlieferung war sie der Geburtsort Abrahams und der legendenhafte König Nimrod ließ dort den ungehorsamen Abraham mittels einer Schleuder von der Zitadelle auf einen Scheiterhaufen schießen. Gott jedoch errettete Abraham und verwandelte das Feuer zu Wasser und die Holzscheite in Karpfen, deren Nachfahren noch heute in diesem Teich gefüttert werden können. Zur lebendigen volksreligiösen Tradition gehört auch der Besuch der Begräbnisstätte des Propheten Hiob, dessen Wohnhöhle sich in einem Vorort von Urfa befindet.

Das Gedenken an das Opfer Abrahams ist bis heute für alle Muslimen ein ganz wichtiger Aspekt ihrer Religion. Am Höhepunkt des höchsten islamischen Feiertags, dem Opferfest, waren wir in Urfa und konnten dort die Festtagsstimmung selbst miterleben. Besonders auffällig waren die zahlreichen Tiermärkte am Rande der Stadt, wo die Bauern der Umgebung ihre Schafe und Ziegen feilboten. Jede Familie, die es sich halbwegs leisten kann, kauft ein Opfertier und gibt einen Teil des Fleisches an Bedürftige weiter.

Ein Dengbêj ist ein kurdischer Poet, ein Barde. Zwei Lieder, ohne musikalische Begleitung, nur mündlich tradiert, erzählten uns von den Widrigkeiten der Liebe und des Lebens und der rauen Berglandschaft. In der Türkei, wo die kurdische Sprache jahrelang verboten war, war schon die Ausübung dieser Tradition Akt der politischen Rebellion. Das Dengbêj-Haus in Diyarbakır, entstanden durch eine Initiative der pro-kurdischen Stadtgemeinde, lässt seit 2007 diese alte Tradition neu aufleben. Es war das erste Mal, dass das türkische Ministerium für Tourismus und Kultur in ein Projekt involviert ist, das offen kurdische Kultur und Sprache fördert. Das Dengbêj-Haus ist somit nicht nur Kulturstätte, sondern auch politisches Statement: "Es gibt uns, unsere Kultur, unsere Tradition, unsere Sprache", sagen die Lieder.

Am 19. Oktober verließen wir schließlich traurigen Herzens Diyarbakır, hatten aber gleichzeitig das Gefühl, schon monatelang unterwegs gewesen zu sein. Erinnerungen wie jene an zahlreiche gemeinsam verbrachte Picknicks – so wie hier am Fluss Beyaz Su – haben wir aber nach Wien mitgenommen. Ebenso die Erfahrung, dass Interdisziplinarität unser Institut und die Zusammenarbeit stärkt und Studienexkursionen eine wunderbare Möglichkeit sind, fachspezifische Themen mit Studierenden vor Ort hautnah zu erleben. (Text und Fotos: Lea Müller-Funk, Stephan Procházka, Gebhard Selz und Anna Telič)
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