Am Mittwoch, 5. Juni 2013, präsentierten der Nobelpreisträger Eric Kandel, Zeithistoriker und Herausgeber Oliver Rathkolb sowie Rektor Heinz W. Engl in der Aula des Hauptgebäudes der Universität Wien den Sammelband "Der lange Schatten des Antisemitismus".
Am 5. Juni stellte Oliver Rathkolb vom Institut für Zeitgeschichte in der Aula der Universität Wien den neuen Sammelband "Der lange Schatten des Antisemitismus" vor. Dieser arbeitet die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte des Antisemitismus an der Universität Wien auf. Der Zeithistoriker und Herausgeber präsentierte den Sammelband gemeinsam mit dem amerikanischen Neurowissenschafter und Nobelpreisträger Eric Kandel.
Gemeinsam mit Rektor Heinz W. Engl sprachen sie in der Aula der Universität Wien über Gewalt und Antisemitismus in der Geschichte der Universität Wien sowie die zahlreichen Initiativen der Alma Mater, die nationalsozialistische Vergangenheit an der eigenen Institution aufzuarbeiten. Der gebürtige Wiener Eric Kandel wurde 1939 selbst mit seiner Familie vertrieben und emigrierte in die Vereinigten Staaten.
Oliver Rathkolb befasst sich in seinem Artikel im Sammelband mit Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien seit 1897. "Die Aula der Universität Wien haben wir bewusst als Veranstaltungsort gewählt, weil hier zahlreiche gewalttätige Auseinandersetzungen stattgefunden haben. Noch bis vor wenigen Jahren stand hier der 'Siegfriedskopf' und diente rechten Studierenden als Erinnerungsort und Startpunkt für Aufmärsche", erklärt Rathkolb eingangs. Der "Siegfriedskopf" wurde im Zuge des Umbaus und der Sanierung des Eingangsbereichs der Universität Wien 2006 von der Aula in den hinteren Bereich des Arkadenhofs verlegt und künstlerisch umgestaltet.
Die historische und künstlerische Kontextualisierung des "Siegfriedskopfs" ist eine der vielen Initiativen, welche die Universität Wien seit einigen Jahren setzt. Zahlreiche Projekte wurden bereits umgesetzt, so z.B. das Forum "Zeitgeschichte der Universität Wien" unter der Leitung von Friedrich Stadler, das Forschungsprojekt "Vertreibung der Studierenden 1938", das Provenienzforschungsprojekt der Universitätsbibliothek oder die Gedenkveranstaltung anlässlich der Aberkennung und Wiederverleihung akademischer Grade. Zuletzt präsentierte die Universität das "Gedenkbuch für die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Wien 1938" mit der damit verbundenen Online-Datenbank.
Der als Kind aus Wien vertriebene Neurobiologe zeigte sich "sehr, sehr froh" über die jüngsten Entwicklungen. "Österreich war sehr langsam, die Vergangenheit anzuerkennen. Gerade an einer Universität ist es so wichtig, dass man über die Vergangenheit spricht." Für das in der Aula präsentierte Buch zum Antisemitismus, der das Wiener Universitätsleben schon lange vor dem "Anschluss" prägte, schrieb Kandel über das kreative Potenzial der Jahrhundertwende, das aus den Kontakten zwischen Christen und Juden im Wien der Jahrhundertwende entstand.
"Andere Beiträge des Sammelbandes befassen sich mit universitätspolitischen Entwicklungen, mit der Frage nach dem spezifisch 'Jüdischen' in der Wissenschaft sowie mit dem 'Aderlass', den etwa die Wiener Mathematik erfahren hat", so Rektor Heinz W. Engl. Er selbst verfasste den Beitrag über die Vertriebenen und Ermordeten, die seine Disziplin in der NS-Zeit zu verbuchen hatte.
In den vergangenen 40 Jahren habe sich in Österreich sehr viel bewegt - auch wissenschaftlich, so Kandel. "Als ich in den 70er Jahren in Wien war, war die Wissenschaft sehr fad. Da hat nicht nur das Publikum geschlafen, sondern auch der Vortragende", amüsierte sich Kandel, der am 6. Juni den "Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch" erhält. Damit wird sein im Vorjahr erschienenes Buch "Das Zeitalter der Erkenntnis" ausgezeichnet.
Kandel erzählte auch von seinen nächsten Projekten. In einem davon will er die wechselvolle Freundschaft zwischen Komponist Arnold Schoenberg und Maler Richard Gerstl als Initiationspunkt der jüdischen Malerei sowie der Abstraktion in Wien beleuchten. "Ich erzähle meinen Enkeln immer solche Geschichten zum Pessach-Fest", erzählte Kandel schmunzelnd: "Normalerweise sagen sie: Opa, lass uns doch endlich essen. Aber bei diesen Geschichten nicht – also sollte ich ein Buch daraus machen."
Solche und andere Anekdoten aus dem Leben des 83-Jährigen sorgten für lockere Stimmung am Podium und im Publikum.
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit "ist gerade für eine wissensbasierte Institution eine Verpflichtung", bekräftigte Engl. Der Universitätsgeschichte in und um die NS-Zeit werde man auch im Rahmen der 650-Jahr-Feier der Universität Wien im Jahr 2015 breiten Raum geben, "nachdem sie viel zu lange ein Tabuthema war". Neben einer Ausstellung zum Wiener Kreis plane man eine weitere "darüber wie Rechtsbeugung verwendet wurde, um Vertreibung zu legalisieren".
Andreas Stadler, Direktor des österreichischen Kulturforums in New York, wandte sich an das Podium und betonte, wie wichtig die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit für die Sichtbarkeit Österreichs in der Welt sei.
Im Anschluss beantworteten Eric Kandel, Oliver Rathkolb und Rektor Heinz W. Engl Fragen aus dem zahlreich erschienenen Publikum.
Danach nahm sich der Nobelpreisträger Zeit zum Signieren von Büchern …
… sowie für den Austausch mit anwesenden WissenschafterInnen und anderen Interessierten aus dem Publikum. Im Bild Eric Kandel im Gespräch mit Mitchell Ash, Wissenschaftshistoriker der Universität Wien, der den Beitrag "Situation jüdischer Wissenschafter an der Universität Wien von der Monarchie bis nach 1945" für den Sammelband verfasst hat. (Fotos: Petra Schiefer, Text: APA/red)