Diskussion: Inklusion statt Sonderschule
Redaktion (uni:view) | 05. April 2013Sind SonderschullehrerInnen in Österreich bald Geschichte? Am 5. April diskutierten BildungswissenschafterInnen der Universität Wien mit den behindertenpolitischen SprecherInnen von ÖVP, SPÖ und Grünen über "Neue LehrerInnen für behinderungsgerechte Schulen".
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"Inklusive Pädagogik muss zu einem Bestandteil der LehrerInnenausbildung werden", leitete Gottfried Biewer, stv. Vorstand des Instituts für Bildungswissenschaft, die Diskussionsveranstaltung in der Sensengasse 3a ein. Es gäbe zwar bereits die Möglichkeit an AHS und BHS Integrationsklassen zu bilden, "doch wird davon noch zu wenig Gebrauch gemacht." Der Bildungswissenschafter sieht das Selbstverständnis der LehrerInnen als Problem: "Lehrkräfte an allgemeinbildenden und berufsbildenden höheren Schulen wollen oft keine Verantwortung für den Bildungsweg von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung übernehmen". (v.l.n.r.: Franz-Joseph Huainigg, Ulrike Königsberger-Ludwig, Wilfried Datler, Marianne Schulze, Stefan Hopmann und Gottfried Biewer)
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Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die Österreich im Jahr 2008 ratifiziert hat – in Kombination mit der LehrerInnenbildung NEU – sieht Biewer als historische Chance, etwas zu verändern. Laut UN-Konvention soll das Sonderschulsystem abgeschafft und ein inklusives Bildungssystem gewährleistet werden: "von der Vorschule bis zur beruflichen und Erwachsenenbildung", so Biewer. Im Aktionsplan der Bundesregierung von 2012 zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention werde die Etablierung Inklusiver Pädagogik in die LehrerInnenbildung für AHS und BHS als eigene Maßnahme explizit genannt. Auch solle die Gebärdensprache Bestandteil der Ausbildung werden. In dem vor kurzem von der Regierung präsentierten Gesetzesentwurf zur Reform der LehrerInnenausbildung kritisiert Biewer jedoch eine "gewisse Beliebigkeit" in Bezug auf eine verpflichtende Verankerung von Inklusionspädagogik in der neuen LehrerInnenausbildung.
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Bei der Planung des neuen Zentrums für LehrerInnenbildung der Universität Wien wurde Inklusive Pädagogik von Anfang an mitgedacht. "Bei vielen EntscheidungsträgerInnen des Schulsystems fehlen aber das Bewusstsein und Interesse für das Thema", so Biewer. Von Seiten der Universität Wien bestehe die Bereitschaft, Inklusive Pädagogik als Studienfach aufzubauen, aber auf ministerieller Ebene fehlen die nötigen Rahmenbedingungen. "Deshalb ist es wichtig, eine öffentliche Diskussion zu diesem Thema anzuregen", so Biewer, der damit das Wort an Wilfried Datler, Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft und Moderator der Veranstaltung, weitergab.
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"Die Universität Wien muss innerhalb und außerhalb der Universität zu einem Bewusstseinswandel beitragen", so Datler einleitend. Seine erste Frage richtete er an die Behindertensprecherin der Grünen, Helene Jarmer: "Haben Sie Ihre Karriere gemacht, weil Sie vom Schulsystem unterstützt wurden, oder trotz des Systems?"
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"Ich wollte eigentlich Lehrerin werden, doch ich musste erfahren, dass Gehörlose in Österreich nicht LehrerInnen werden können", so Jarmer über ihre persönliche Geschichte. Trotz der vielen Schwierigkeiten, mit denen sie im Regelschulsystem als Gehörlose konfrontiert wurde, habe sie Matura und Studium der Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien abgeschlossen. "Um im Schulsystem etwas zu ändern, bin ich schlussendlich in die Politik gegangen", so Jarmer schmunzelnd.
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Franz-Joseph Huainigg, behindertenpolitischer Sprecher ÖVP, hat sein Doktorat an der Universität Klagenfurt gemacht und ist "trotz Bildungssystem zum Abschluss gekommen". Er freue sich, dass sich die Universität Wien für Inklusion einsetzt. Er habe es allein dem Einsatz seiner Eltern zu verdanken, dass er schließlich auf eine Regelschule durfte. "Ich habe dreizehn Jahre lang nie meine Schultasche selber tragen müssen", lachte Huainigg. "Inklusion war für mich lebensentscheidend." Er kritisierte das Sonderschulsystem als teuer und nicht effizient und sprach sich für einen "radikalen Schnitt" mit der Sonderschule durch deren Abschaffung aus. "Der Schlüssel sind die LehrerInnen – jede/r muss über Grundkenntnisse der Inklusiven Pädagogik verfügen". Und vor allem sollten auch LehrerInnen mit Behinderung unterrichten dürfen.
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Ulrike Königsberger-Ludwig, behindertenpolitische Sprecherin der SPÖ, hat in ihrer eigenen Schulzeit keine Inklusion erlebt. Da Kinder mit Behinderung in Sonderschulklassen untergebracht waren, hat sie erst relativ spät Menschen mit Behinderung kennen gelernt. "Ich höre oft Kritik, dass ich Behindertensprecherin bin, ohne selbst eine Behinderung zu haben, doch ich bin der festen Überzeugung, dass es beide Sichtweisen braucht – jene der betroffenen und jene der nicht betroffenen Menschen – , damit eine gesellschaftspolitische Veränderung herbeiführt werden kann", so Königsberger-Ludwig.
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Marianne Schulze, Vorsitzende des Monitoringausschusses zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Österreich, hat "das Bildungssystem als 'Schwerstnormale' überlebt". Sie ist aufgrund ihrer Legasthenie jedoch aus einer Wiener Schule geflogen. "Es gibt keine 'normalen' SchülerInnen – jede/r hat eigene Bedürfnisse, auf die der Lehrer oder die Lehrerin eingehen muss", so Schulze.
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Der nächste auf dem Podium war Stefan Hopmann, Professor für Schul- und Bildungsforschung am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Er sieht die jetzige LehrerInnenbildungsreform als Möglichkeit, Inklusive Pädagogik in alle Fächer zu integrieren. "Doch weltweit ist Inklusion leider nicht mehr auf dem Vormarsch – aufgrund des steigenden Leistungsdrucks wird wieder verstärkt ausdifferenziert. In Norwegen bilden viele Schulen sogar Sonderklassen", so Hopmann, der das Thema allgemein gefährdet sieht. "Um unsere Ziele umzusetzen, brauchen wir die nötigen Mittel und Strukturen – denn 'gut gemeint' ist manchmal das Gegenteil von 'gut'".
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"Die LehrerInnen der Zukunft sollen sich selbstverständlich um Kinder mit Behinderung kümmern und eingreifen, wenn Kinder nicht entsprechend gefördert werden. Sie sollen ähnlich der 'Special Needs Coordinators' in Großbritannien eingesetzt werden", so Biewer, der 17 Jahre lang selbst Lehrer war. "Nach meiner Berufung als Professor für Sonder- und Heilpädagogik hatte ich mit LehrerInnenbildung nichts zu tun, weshalb ich angefangen habe, Lehrveranstaltungen für Lehramtsstudierende zu halten", erzählte Biewer. "Viele fanden das Thema vollkommen uninteressant – doch es gab auch einige Studierende, die persönlichen Kontakt zu Menschen mit Behinderung hatten und interessiert waren." Biewer sieht die Chance, welche die UN-Konvention und die LehrerInnenbildung Neu jetzt bietet, als "historisches Zeitfenster", das zu nutzen sei, bevor es sich wieder schließe.
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Im Rahmen der angeregten Diskussion im Anschluss richteten einige Gäste, darunter Stakeholder aus den zuständigen Ministerien, Eltern- und LehrervertreterInnen, JournalistInnen sowie WissenschafterInnen Fragen an die parlamentarischen VertreterInnen am Podium: "Wir müssen die Stärken von Menschen mit Behinderung stärker in den Vordergrund stellen. Sie müssen von der Gesellschaft als gleichberechtigt gesehen werden", so Ulrike Königsberger-Ludwig. "Elternbildung ist wichtig, damit Inklusion funktionieren kann." Inklusion müsse auch als Gewinn für Kinder ohne Behinderung begriffen werden. Ein Lehrer aus dem Publikum gibt zu bedenken, dass sich nicht nur in der Ausbildung, sondern auch in den Schulen selber einiges ändern müsse. "Die älteren KollegInnen müssen umdenken – das ist die große Herausforderung".
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Germain Weber, Dekan der Fakultät für Psychologie: "Wir als Universität Wien müssen die UN-Konvention ernst nehmen und haben die Verantwortung zu handeln. Mit unserer Forschung und Expertise können wir entscheidend zu einem Wandel im Bildungssystem beitragen." (Text: Petra Schiefer/ Fotos: Martin Rauch)
- zum Themenschwerpunkt "LehrerInnenbildung"
- Die LehrerInnenbildung an der Universität Wien
- Institut für Bildungswissenschaft der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft
- Website Gottfried Biewer
- Artikel "Diskussionsrunde: Neue LehrerInnen für behinderungsgerechte Schulen" in uni:view
- Artikel "Lehrerausbildung: Experten warnen vor Vernachlässigung Behinderter" im Standard