"Brasilien natürlich!"
Gastbeitrag von Agnes Bauer | 12. Juni 2014Agnes Bauer studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft und Romanistik an der Universität Wien und hat das Glück, gerade zur Fußball-WM ein Auslandssemester in Rio de Janeiro zu verbringen. In ihrem Fotobericht gibt sie uns Einblicke in ihren Alltag abseits von Fan-Zonen und Stadionlärm.

Zu Beginn meines Semesters in Rio de Janeiro nahm ich an einigen Ausflügen teil, die von einer Organisation für AustauschstudentInnen arrangiert wurden. Unter anderem fand eine kleine Wanderung auf den "Morro" – das bedeutet so viel wie "Hügel" – Mirante Dona Marta statt, von wo aus man die wunderschönsten Seiten der Stadt ablichten und die traumhafte Aussicht genießen kann. Der Felsen in der Mitte des Bildes zeigt den berühmten Zuckerhut (Pão de Açúcar).

Unverzichtbar bei einem Rio-Besuch: die berühmte Treppe Escaderia Selarón, die 1994 von dem chilenischen Künstler Jorgen Selarón gestaltet wurde. Sie gehört neben der Christus-Statue und dem Zuckerhut zu den Sightseeing-Highlights der Stadt. Die bunten Farben der Mosaiksteine grenzen sich ab von der sonst recht kargen und farblosen Umgebung dieses Viertels. Die Entstehungsgeschichte der famosen Stufen ist ebenso faszinierend wie ihre Schönheit.

Täglich ab etwa 17 Uhr kann man auf dem Felsen Arpoador, der die beiden Strände Copacabana und Ipanema trennt, den traumhaften Sonnenuntergang beobachten. Von jung bis alt treffen sich dort Menschen, um ihren Tag ruhig und entspannt ausklingen zu lassen. Meistens applaudieren die "Zuschauer", nachdem die Sonne endgültig hinter dem Horizont verschwunden ist. Das Stadtviertel Ipanema profitiert vom Tourismus und ist eine der reichen Gegenden Rios. Die Leute auf den Straßen und am Strand sind modern, sehr sportlich – Sport ist generell beliebt in Rio – und meistens aus den oberen Schichten.

Meine Fakultät – die Faculdade de Letras (Geisteswissenschaftliche Fakultät) der Universidade Federal do Rio de Janeiro – befindet sich nicht im Inneren der Stadt, sondern liegt etwas nördlich, auf der Ilha Fundão, die von meinem Wohnort etwa eine Stunde entfernt ist. Vier Mal in der Woche fahre ich mit dem Bus dorthin. Die Ausstattung ist im Vergleich zu meiner Universität in Wien bescheiden – die einzelnen Klassenräume sind nur mit Stühlen und alten Tafeln ausgestattet. Es gibt jedoch auch zwei größere Auditorien mit besserer und modernerer Einrichtung. Mit den ProfessorInnen und StudienkollegInnn konnte ich zweifelsohne nur positive Erfahrungen sammeln. Von Anfang an wurde mir sehr viel geholfen, wenn ich Hilfe brauchte – zudem haben wir AustauschstudentInnen eine eigene Verantwortliche, die uns zur Verfügung steht, wenn wir Fragen oder konkrete Anliegen haben.

Der Karneval in Rio hat meine Erwartungen und Vorstellungen übertroffen. Er ist eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres für die BrasilianerInnen und wird dementsprechend gefeiert. Obwohl der eigentliche Karneval "nur" etwa eine Woche dauert, werden schon im Vorhinein "blocos" (Umzüge) und offizielle Proben veranstaltet. So auch im berühmten Sambódromo (Karneval-Arena, Tribünenstraße), in dem vor der Karnevalswoche die pompösen Umzüge geprobt werden, bei denen man teilweise gratis zusehen darf. Auch die SchülerInnen und StudentInnen profitieren von der nationalen Tradition – alle Schulen und Universitäten sind während der Feiertage etwa eine Woche geschlossen. Leider ist auch während der "lustigen Zeit" die soziale Ungerechtigkeit sichtbar. Auf einem "bloco" im reichen Stadtviertel Ipanema habe ich Kindern mit traurigen Gesichtern, die in der Menschenmasse versuchten, etwas zu verkaufen, Kaugummis abgekauft und sogar ein Foto mit ihnen bekommen.

Um bei den sozialen und politischen Problematiken zu bleiben – ein Blick von unten auf die Favela "Rocinha", in der ich einmal die Woche als freiwillige Helferin in einem Kindergarten arbeite. An meinen ersten Arbeitstagen war ich nicht unbedingt schockiert und erschrocken über das, was ich gesehen habe. Alle Kinder haben Schultaschen, wie bei uns, und sehen total süß und sehr gepflegt aus. Doch die wirkliche Situation ist nicht immer gleich sichtbar. Fakt ist, dass die Favelas keine bzw. nur eine schlecht funktionierende Kanalisation haben, die Familien auf extrem engem Raum zusammen wohnen, teilweise unerträglicher Gestank auf den Gassen herrscht und sich jede Menge Ratten auf den Straßen und in den Häusern herumtreiben. Was auf dem Bild idyllisch aussieht, verwandelt sich im Inneren zum Gegenteil.

Jeden Montag arbeite ich in dem Kindergarten "Saci Sabe Tudo" in der Favela Rocinha. Eine ehemalige Reiseleiterin aus Italien, Barbara Olivi, gründete 2002 eine Organisation ("Il sorriso dei miei bimbi") und konnte mithilfe von Spendengeldern und staatlicher Unterstützung vielen Kindern in der Favela eine adäquate Bildung ermöglichen. 2006 wurde der Kindergarten renoviert. Seitdem besteht er aus einem Sekretariat, drei Klassenräumen (allerdings viel kleiner, als wir sie kennen), einer davon mit großem Spiegel an der Wand für "Extra-Fächer" wie Capoeira oder Musik, einem Informatikraum mit drei Computern sowie einem Büro.

Chancen für die Jüngsten: Mit diesem Projekt wird den Kindern in dem Armenviertel die Möglichkeit gegeben, sich mit Bildung auf ihre Zukunft vorzubereiten. Aktuell besuchen rund 80 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren den Kindergarten "Saci Sabe Tudo". Leider mangelt es immer noch an entsprechenden Bildungseinrichtungen. Die staatlichen Schulen haben aufgrund ihrer mageren Ausstattung und ihres teils schlechten Lehrpersonals keinen besonders guten Ruf. Obwohl sie kostenlos ist, besuchen viele Kinder aus ärmeren Familien nicht die Schule, da sie sich Schuluniform, Bücher, Hefte, etc. nicht leisten können.

Natürlich dürfen Strandbesuche am Wochenende nicht fehlen. Die drei aneinander liegenden Strände – Leme, Copacabana und Ipanema – sind besonders bei TouristInnen sehr beliebt. Bei meiner Ankunft hatten wir hier den letzten Abschnitt des Hochsommers – dementsprechend musste ich auch mit dem teils unerträglichen Klima kämpfen. Mittlerweile ist es um einiges angenehmer und kühler, was aber einen Strandbesuch nicht ausschließt. Trotz des umfangreichen Tourismus an diesen Stränden, ist es immer wieder traumhaft, sich dort vom Alltagsstress alleine oder mit Freunden zu erholen.

Selbst Fußball-Boykottierer wie ich können dem WM-Fieber nicht entfliehen – das Thema Fußball ist allgegenwärtig: Überall Werbung (im Fernsehen, auf der Straße, in der Zeitung, ...), Hymnen (die wir sogar im Kindergarten gesungen haben), Brasilien-Fan-Artikel in allen möglichen Varianten (T-Shirts, Pfeifen, Fahnen, Tassen, Unterwäsche, Haarbänder, ...), Fan-Sticker-Hefte, und und und. Die Straßen und Gassen werden in allen möglichen Gelb-Grün-Materialien dekoriert und in bestimmten Gegenden gibt es sogar Wettbewerbe für die am schönsten geschmückten Gassen. Das Foto zeigt mich mit einem Fußballspieler vom Team Fluminense, das in Rio sehr beliebt ist und dessen Fußballstadion direkt in meinem Bezirk liegt. (Text und Fotos: Agnes Bauer)
Agnes Bauer zur WM: | ||
Werden Sie persönlich die Fußball-WM verfolgen? |
Agnes Bauer ist Studentin der Theater-Film und Medienwissenschaften und Romanistik an der Universität Wien. Im Rahmen des Non-EU Student Exchange Program verbringt sie zwei Semester (von Februar bis Dezember 2014) an der Universidade Federal do Rio de Janeiro.
- uni:view-Dossier "Olá Brasil"
- Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät
- Institut für Romanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät
- Non-EU Student Exchange Program der Universität Wien
- Universidade Federal do Rio de Janeiro
- Organisation "Il sorriso dei miei bimbi"
- Entstehungsgeschichte der Treppe Escaderia Selarón