Von der Lehrerin zur Hirnforscherin

Am 15. März 2012 erschien die neueste Ausgabe des Alumni-Magazins "univie", diesmal mit dem Schwerpunktthema "Wie Lernen gelingt". Lesen Sie hier als Vorgeschmack einen Gastbeitrag von Evelyn Kanya über die Sprachlehr- und lernforscherin Susanne Reiterer.

Nach zwei Jahren Unterricht an zwei verschiedenen Schulen warf Susanne Reiterer das Handtuch. "Vielleicht hatte ich einfach nur Pech mit den Direktoren", meint die Italienisch- und Englischlehrerin heute. "Es ging mehr darum, die SchülerInnen zu erziehen und dass sie sich nicht die Köpfe einschlagen, als um das Sprachenlernen." Sie kündigte und inskribierte wieder an der Universität Wien. Für ihren Traum, das Lernen und Lehren von Fremdsprachen zu verbessern, erschien ihr die Hirnforschung am geeignetsten. Eine neue Welt für die Geisteswissenschafterin, keine einfache. Zwei Jahre lang las Susanne Reiterer alles, was sie in der Universitätsbibliothek dazu finden konnte, lernte Statistik und besuchte jede Lehrveranstaltung über Sprache und Gehirn. Den Leiter des Instituts für Neurophysiologie an der damaligen Medizinischen Fakultät nervte Susanne Reiterer, bis er sie mitmachen ließ. Mit den Geräten des Instituts führte sie ihre ersten Untersuchungen durch – für ihre Dissertation verglich sie die Hirnaktivitäten von SprachstudentInnen und anderen Studierenden.

Ist Sprachbegabung angeboren?
 
Weil es an der Universität Wien keine geeignete Stelle gab, ging Susanne Reiterer nach ihrem Abschluss 2002 nach Tübingen und hantelte sich dort als freie Forscherin von Projekt zu Projekt. "Es war eine harte Zeit." Auch eine erfolgreiche: Kürzlich führte sie an der Universität Tübingen ein aufwändiges Experiment durch, um herauszufinden, warum manche Menschen Fremdsprachen akzentfrei sprechen können, während sich andere ein Leben lang damit plagen. Sie ließ Versuchspersonen Texte auf Englisch und Hindi vorlesen, MuttersprachlerInnen bewerteten die Aussprache. Ein Magnetresonanzscanner dokumentierte die Gehirnaktivität.

Auf das Ergebnis ist Susanne Reiterer stolz: Die Aussprache-Talente aktivierten die für die Aussprache zuständigen Hirnareale deutlich weniger. "Das ist mit einem Muskel vergleichbar. Wer einen großen Muskel hat, tut sich leicht, etwas aufzuheben, ein anderer schwitzt dabei." 15 Prozent schnitten sehr gut ab, etwa gleich viele kamen ordentlich ins Schwitzen, die überwiegende Mehrheit lag im Mittelfeld: "Das ist eine sogenannte Normalverteilung, was auf ein biologisches Phänomen hindeutet, wie es auch die Körpergröße ist." Das hieße: Die Sprachbegabung ist angeboren. "Das wird nicht gerne gehört", erzählt Susanne Reiterer. Internationale Sprachschulverbände sollen in der Vergangenheit entsprechende Forschungsergebnisse sogar unterdrückt haben, weil sie Angst hatten, dass dann nur mehr Begabte Fremdsprachenkurse machen würden. "Wahrscheinlich reizt mich das Thema auch deshalb, ich will das Unerwünschte wissenschaftlich belegen."



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Alternative zum Rasenmäher

Im Frühjahr kehrt Susanne Reiterer zurück nach Wien, sie tritt eine Stelle am neuen Fachdidaktischen Zentrum für Sprachlehr- und -lernforschung an der Universität Wien an, das im September 2011 gegründet wurde. Die Forschung vernetzen und weiterentwickeln, den Kontakt der Studierenden mit Schulen verstärken und neues Wissen an LehrerInnen weitergeben – das sind die Ziele des Zentrums, das Eva Vetter leitet.

Nicht nur bei der Aussprache, auch für die anderen Sprachebenen, wie Grammatik oder Wortschatz, gibt es unterschiedliche Begabungen, so Susanne Reiterers These, diese will sie erforschen. "Man könnte die Lernenden nach ihren Begabungen in Gruppen unterteilen und dann jeweils auf sie zugeschnitten unterrichten – also Grammatiktalente anders als Aussprachetalente. Das würde die Motivation und den Lernfortschritt erhöhen. Im Moment haben wir ein Rasenmähersystem." Derzeit gibt es weltweit nur eine Einrichtung, die Sprachbegabungstests systematisch betreibt: das US-Verteidigungsministerium.

Am 15. März erschien die neueste Ausgabe von "univie", dem Alumni-Magazin der Universität Wien.