In memoriam Siegfried Mattl (1954-2015)

Das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien trauert um Siegfried Mattl, der am Samstag, 25. April 2015, nach langer und schwerer Krankheit verstorben ist.

Siegfried Mattl ist tot. Er ist letzten Samstag, am 25. April 2015, nach langer und schwerer Krankheit gestorben. Humorvoll wie immer, ließ er sich seine Krankheit nach außen kaum anmerken. Für alle, die ihn kannten, eine trotz des Wissens um sein Leiden kaum fassbare und schmerzliche Nachricht.

Siegi, wie wir ihn nannten, gehörte seit den 1970er Jahren wie selbstverständlich zum Institut für Zeitgeschichte, auch wenn er nie offiziell die klassischen Positionen einer universitären Laufbahn, einer Assistenten- oder Professorenstelle, einnahm. Er hat die österreichische Zeitgeschichte – vor allem in ihren kulturwissenschaftlichen Ausprägungen – in den letzten Jahrzehnten maßgeblich mit geprägt.

1954 in Mürzzuschlag geboren, studierte Siegfried Mattl nach Absolvierung des Neusprachlichen Gymnasiums Mürzzuschlag ab 1972 Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien und promovierte 1980 am Institut für Zeitgeschichte. Thema seiner Dissertation war die Agrarstruktur, Bauernbewegung und Agrarpolitik in Österreich 1919–1929.

An der Universität wirkte Siegfried Mattl in der Folgezeit an wichtigen Projekten der österreichischen Zeitgeschichte mit. Dazu zählt zweifelsohne seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Sekretär des vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Anfang der 1980er Jahre eingesetzten Projektteams Zeitgeschichte, das eine kritische Bestandsaufnahme der noch jungen zeitgeschichtlichen Forschung in Österreich vornahm und damit eine Debatte über notwendige Forschungsentwicklungen auslöste.

Ein Projekt, das für Siegfried Mattls frühes großes Interesse an Medien(geschichte) steht, ist seine zentrale Beteiligung an der legendären und Standards setzenden Großausstellung 1984 in der Straßenbahn-Remise Wien-Meidling „Die Kälte des Februars“ über Österreich 1933 bis 1938.
Von 1984 an war Siegfried Mattl wissenschaftlicher Mitarbeiter des von Erika Weinzierl geleiteten Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft und hatte somit eine fixe Anbindung an das Institut für Zeitgeschichte, wo er von 1986 an unterrichtete und dem er mit seiner Habilitation 1996 auch dienstzugeteilt wurde. In der Folgezeit leitete er gemeinsam mit Erika Weinzierl und Oliver Rathkolb das Boltzmann-Institut, ab 2005 war er alleiniger Leiter des Instituts im Geschichte Cluster der Boltzmanngesellschaft.

Siegfried Mattls breites Interesse an Geschichte hatte klare Präferenzen, es war die Kultur-, Stadt- und Mediengeschichte, vor allem der Film, wobei er diese Forschungsgebiete alle in einem größeren Kontext der Geschichte der Moderne zu verorten wusste. Er initiierte, leitete und begleitete in den letzten zwei Jahrzehnten eine Fülle von Initiativen und Projekten im Rahmen seines Forschungsschwerpunktes, die Einbindung einer großen Zahl von Studierenden und jüngeren KollegInnen in den Wissenschaftsbetrieb war ihm dabei immer ein besonderes Anliegen.

Zunehmend baute Mattl hier seine internationalen Kontakte aus, typisch war für ihn der Aufbau eigenständiger, über die Geschichtswissenschaft hinausgehender Netzwerke wie das seit 1998 betriebene Forschungsprojekt „btwh - emergence of modernity“. das gemeinsam mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft, dem German Department der Universität Berkeley und dem Germanistischen Institut der Universität Tübingen entstand. Zunehmend führten seine Interessen Siegfried Mattl auch an andere Orten und wissenschaftliche Einrichtungen, wobei ihm die Entwicklung der Kulturwissenschaften in Österreich, betrieben auf hohem theoretischen und methodischen Niveau, immer ein zentrales Anliegen blieb. An den Grenzen des eigenen Fachs, ihren Verbindungen zu Nachbardisziplinen und Überschreitungen besonders interessiert, engagierte sich Siegfried Mattl auch über viele Jahre an der Veranstaltungsreihe der Interaktionen am Institut. In den letzten Jahren war es aber vor allem das Verhältnis zwischen Film und Geschichte, dem seine Forschungsleidenschaft galt.

Im Kontext der eher theoriefernen Domänen Neuere Geschichte und Zeitgeschichte war Mattl früh einer der Wenigen, die sich für eine explizit theoretische Fundierung der historiographischen Arbeit einsetzten und sie in verschiedene Richtungen hin forcierten. Sein Interesse galt dabei einerseits einem frankophonen Theoriestrang von Foucault über Deleuze bis zu Rancière, andererseits semiologischen und psychoanalytischen Traditionen, Gedächtnistheorien, Konstruktivismen, Theorien des Geschlechterverhältnisses und der Körperlichkeit/Embodiment, New Historicism, bis hin zu einem breiten Spektrum von Filmtheorien und Theorien der visuellen Geschichte. Zu theoretischen Diskussionen trug er umfangreich und vielgestalt bei. Ihre Verknüpfung mit empirischer Arbeit gelang ihm in ungewöhnlicher Breite.

Siegfried Mattl war ein eminent politischer Mensch. Als junger Mann in der Sozialdemokratie, dann in der trotzkistischen GRM engagiert, blieb er zeitlebens an der Geschichte der Linken, der Arbeiterbewegung, an ihrer Theorie wie ihrer Praxis besonders interessiert, die politischen Entwicklungen verfolgte er immer mit größter Aufmerksamkeit. Aber auch der universitätspolitische Kontext war ihm wichtig. So war Siegfried Mattl 1996 einer der Mit-InitiatorInnen und Gründungsmitglied der IG Externer LektorInnen.

Als Kollege war Siegfried Mattl allseits beliebt und geschätzt, den Ritualen universitärer Distinktionskämpfe entzog er sich. Für die Wissenschaft ist der frühe Tod von Siegfried Mattl ein großer Verlust, wir am Institut haben mit Siegi auch einen lieben Kollegen und Freund verloren.

Johanna Gehmacher, Albert Müller, Bertrand Perz für das Institut für Zeitgeschichte

Die Trauerfeier findet am Montag, 11. Mai 2015, um 17 Uhr in der Feuerhalle Wien-Simmering statt.