In Memoriam: Gerhard Jagschitz (1940 – 2018)

schwarze Fahne

Die Universität Wien trauert um Zeithistoriker Gerhard Jagschitz, der am 30. Juli 2018 im Alter von 77 Jahren verstorben ist. Ein Nachruf von Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte.

Gerhard Jagschitz (1940-2018), ein persönlicher Nachruf

Mit großer Trauer schreibe ich diesen Nachruf auf einen bedeutenden Zeithistoriker, der nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein engagierter Demokrat und Akteur der Zivilgesellschaft gewesen ist. Jagschitz gehörte der zweiten Generation der Zeithistoriker in Österreich an und begann seine Karriere als Assistent bei Ludwig Jedlicka 1968 mit einer leider nie publizierten, spannenden Dissertation über  "Die Jugend des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß". Sein erstes Buch, mit dem er sich 1978 habilitierte, war dem gescheiterten Putschversuch der Nationalsozialisten 1934 gewidmet.

1985 wurde er Universitätsprofessor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte. Zwischen 1994 und 2001 war er überdies ein sehr aktiver Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte.

Vom frühesten Beginn seiner Tätigkeit am Institut für Zeitgeschichte an begann er, neben seiner umfangreichen und sehr erfolgreichen Lehr- und Forschungstätigkeit eines der bedeutendsten zeitgeschichtlichen Bildarchive in Österreich aufzubauen und engagierte sich intensiv mit Gleichgesinnten an der Institutionalisierung audiovisueller Quellensammlungen. Wichtige Bildbände beispielsweise aus der Sammlung des Starphotographen Lothar Rübelt dokumentieren eindrucksvoll diese Arbeit.

Jetzt befinden sich – mit seiner Zustimmung – diese seine Sammlungen im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek bzw. – was die Tonquellen betrifft – in der Mediathek des Technischen Museums, mit der er ein umfangreichreiches Oral History Projekt in mehrstündigen lebensgeschichtlichen Gesprächen mit über 1.500 Männern und Frauen, Jugendlichen Erwachsenen und Senioren durchgeführt hat.

Gerhard Jagschitz war ein wesentlicher Pionier im Bereich der Dokumentation und Verwendung audiovisueller Quellen und hat überdies in seinen theoretischen Arbeiten international Anerkennung gefunden. Gerhard Paul, eine der bedeutendsten Bildtheoretiker der Gegenwart, wies darauf hin, dass Jagschitz als erster im deutschsprachigen Bereich den Begriff „Visual History“ verwendet hat.

Jagschitz war ebenso als Ausstellungsgestalter in Niederösterreich erfolgreich – u.a. mit Themen wie 1985 auf der Schallaburg "Die wilden 50iger Jahre" oder mit Stefan Karner gemeinsam 1995  mit "Menschen nach dem Krieg. Schicksale 1945 – 1955". Es war Jagschitz ein großes Anliegen, zeitgeschichtliche Themen in gediegener wissenschaftlicher Form einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen.

Ich selbst habe bei Jagschitz mein erstes Seminar absolviert, und er hat mich von der mittelalterlichen Geschichte zur Zeitgeschichte weggelockt. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an seine perfekte umfassende Betreuung meiner Dissertation in der Zeit des Interregnums zwischen Jedlicka und Erika Weinzierl. Er war ein engagierter und kompetenter akademischer Lehrer wie zahlreiche andere ehemalige Studenten bestätigen können.

Durch seine Gutachten in Neonaziprozessen, die auf umfassenden Quellenforschungen zur Geschichte des Holocaust beruhten, ermöglichte er eine klare Rechtsprechung gegen Neonazis und deren permanente Verleugnung des Holocaust.

Jagschitz scheute sich nicht, kritisch in die eigene Familiengeschichte zu blicken und in einem Buch über seinen Großvater Max Ronge, der bis zum Ende der Monarchie Chef des Geheimdienstes der k. u. k. Armee war, gemeinsam mit Verena Moritz und Hannes Leidinger unter dem Titel "Im Zentrum der Macht" (2007), dessen Tätigkeit zu rekonstruieren:  "Mein Großvater", meinte Gerhard Jagschitz in einem Interview für Die Zeit 2007, "war nach den heute gültigen Regeln ein Massenmörder." Ein vergleichbares Statement findet sich selten, aber dokumentiert die strenge wissenschaftliche Prägung des Zeithistorikers Jagschitz.

Ebenso streng ging Jagschitz immer wieder mit dem Zustand der politischen Kultur in Österreich und Europa ins Gericht. Er sah die EU primär als Gefahr für die Souveränität Österreichs an, aber kritisierte ebenso den Zustand der Politik in Österreich, wenn er einen "bananenrepublikanischen Hauch" im Zusammenhang mit dem Eurofighter-Ausschuss konstatierte. Schon als Mittelbauvertreter an der Universität Wien hat er sich erfolgreich für die Basisdemokratie engagiert und blieb in vielen Bereichen zivilgesellschaftlichen Gruppen eng verbunden.

Gerhard Jagschitz und seine durchaus scharfen und pointierten Stellungnahmen werden fehlen, seine zeitgeschichtlichen Studien und seine umfangreichen Sammlungen hingegen werden die Erinnerung an ihn und eine kritische österreichische Zeitgeschichte wach halten.

Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien

Das Begräbnis von Gerhard Jagschitz wird am Freitag, 17. August 2018 um 15 Uhr am Zentralfriedhof, Halle 1 stattfinden.