Europa und die Sprachen
| 08. November 2010Am 8. November erschien die neueste Ausgabe von "univie", dem Magazin des Alumniverbands für die AbsolventInnen und MitarbeiterInnen der Universität Wien. Schwerpunkt des aktuellen Hefts: Europa und die Sprachen. Lesen Sie hier einen ausgewählten Artikel von Evelyn Kanya über Forschungen an der Universität Wien zum Thema Vielsprachigkeit, den Widersprüchen in der Politik sowie Strategien für ein gutes Miteinander und Nebeneinander der Sprachen.
Bobby ist erst acht, trotzdem spricht er schon vier Sprachen - drei davon fließend. Seine Muttersprache ist Tschechisch, sein russischer Vater hat ihm Russisch beigebracht. Bobby wächst in Österreich auf, mit seinen Freunden spricht er Deutsch, in der Schule lernt er Englisch. Bobby ist zwar erfunden, aber er wäre kein Einzelfall. Jedes vierte Kind in Österreichs Pflichtschulen hat laut der Schulstatistik 2008/2009 eine andere Muttersprache als Deutsch, in Wien sind es sogar mehr als die Hälfte. An die 80 Sprachen werden in den Schulen gesprochen. Zwar ist laut Verfassung Deutsch die Staatssprache, doch Österreich ist längst vielsprachig.
Mehrsprachigkeit als Herausforderung
Es sind vor allem MigrantInnen, die die neue Sprachenvielfalt Europas prägen. Menschen aus rund 175 Nationen leben in der Europäischen Union, schätzt die EU-Kommission. In London werden über 300 Sprachen gesprochen, heißt es auf der Website der Stadt. Diese Entwicklung stellt die einzelnen Länder vor große Herausforderungen: im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und im Zusammenleben.
"Zwar bekennt sich die EU zu Mehrsprachigkeit, aber die Politik der Mitgliedstaaten ist noch weit davon entfernt, echte Mehrsprachigkeit zu garantieren - und Sprachpolitik ist Ländersache", resümiert Rosita Schjerve-Rindler, Professorin am Institut für Romanistik, die in den letzten vier Jahren im EU-Exzellenznetzwerk LINEE über Mehrsprachigkeit forschte: "Wir haben in Europa eine sehr selektive Mehrsprachigkeit, die auch vom Schulsystem reproduziert wird. In der Praxis zählen nur die großen Nationalsprachen: Englisch, Deutsch, Französisch - und vielleicht Spanisch und Italienisch. Die Mehrsprachigkeit von Minderheiten und MigrantInnen wird hingegen als Problem und Defizit wahrgenommen. Da brennt der Hut." Ein Beispiel: Im derzeitigen Schulsystem schneiden Kinder wie Bobby schlechter ab, sie müssen öfter Klassen wiederholen, besuchen meist die Hauptschule und machen selten Matura.
Ein Staat, eine Sprache
"Im Gegensatz zu anderen Kontinenten und Staaten wie Afrika oder Indien hat Europa die Erfahrung, dass Menschen mehrsprachig aufwachsen, verloren", erklärt Hans-Jürgen Krumm, emeritierter Professor für Deutsch als Fremdsprache am Institut für Germanistik. "In Indien sprechen die meisten Kinder schon vor dem Schuleintritt mehrere Sprachen, in der Schule werden oft fünf Sprachen gelehrt."
"Eine Nation, eine Sprache, ein Volk": Das ist das Prinzip, das die europäischen Staaten prägt. Einsprachigkeit gilt als Normalität. Dabei sind die Nationalsprachen erst eine Erfindung des 18. und 19. Jahrhunderts, sagt die Anglistin Barbara Seidlhofer, davor war Mehrsprachigkeit Alltag.
Unterdrückung der Sprachenvielfalt
"Die Entstehung von Nationalstaaten war eng verknüpft mit sprachlicher Vereinheitlichung. Für die nationale Einheit wurde die Sprachenvielfalt bewusst unterdrückt." Konflikte wie die beiden Weltkriege verstärkten die Verbindung von Sprache und nationaler Zugehörigkeit. "Es ist eine Frage der Macht, wer wessen Sprache lernen muss", beschreibt Seidlhofer. "Wir haben daher in der EU auf vielen Ebenen Vereinheitlichungen, bis zur Währung, nur auf der Sprachebene nicht." Alle Nationalsprachen sind gleichwertige Amtssprachen. Seidlhofer: "Es ist jedoch ein Irrtum, dass dieses Nebeneinander nationaler Monolingualismen zu echter Mehrsprachigkeit führt."
Sprachverbote an Schulen
"Spucken: 20 Cent, Treten: 40 Cent, Türkisch sprechen: 50 Cent", stand auf dem Schild im Pausenhof einer Schule in Nordrhein-Westfalen. Sprachverbote an Schulen sind kein Einzelfall. Erst diesen Sommer sorgte ein Salzburger Privatgymnasium für Schlagzeilen, weil dort nur mehr Deutsch gesprochen werden darf, auch in der Pause.Noch in den Sechzigern erklärte der deutsche Sprachwissenschafter Leo Weisgerber, dass Mehrsprachigkeit zu "einer Einbuße der Geistesschärfe" und sogar zum "Erschlaffen des Gewissens" führe.
Mehrsprachigkeit: unschädlich
Die Meinung, dass Mehrsprachigkeit schädlich sei, habe sich zum Teil bis heute gehalten, wenn auch nicht in der von Weisgerber vertretenen Radikalität, beobachtet die Sprach- und Erziehungswissenschafterin Inci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweitsprache am Institut für Germanistik und als Kind einer deutsch-türkischen Familie selbst mehrsprachig. "Dass Kinder durch Mehrsprachigkeit verwirrt werden, ist heute wissenschaftlich mehrfach widerlegt. Unser Gehirn hat Platz für viele Sprachen", sagt Dirim. "Gerne wird das Code-Switching als Verwirrung ausgelegt, wenn also Kinder mitten im Satz die Sprache wechseln. In Wirklichkeit ist das ein strategischer Sprachgebrauch. Durch den Kontrast zwischen den Sprachen können Dinge betont werden, zum Beispiel ein 'Nein'."
Inci Dirim plädiert für eine Stärkung des herkunftssprachlichen Unterrichts an Österreichs Schulen. Studien hätten gezeigt, dass Kinder, die ihre Herkunftssprache gut sprechen, davon beim Lernen der Mehrheitssprache profitieren: "Bei Kindern mit Migrationshintergrund geht es oft darum, bildungsferne Schichten zu erreichen. Dazu muss man bei ihren Ressourcen anknüpfen. Wenn Kinder in ihrer starken Sprache alphabetisiert werden, haben sie einen guten Start in die Schullaufbahn."
Lesen Sie den gesamten Artikel auf der "univie"-Website des Alumiverbands.