Wer lehrt, hat auch einmal studiert (Teil 7)

Theologe Wilfried Engemann erzählt in uni:view von seinem Studium an einer kirchlichen Hochschule in der DDR – einer "Insel im roten Meer". Durch dieses bekam er erstmals das "Gefühl, vom Ufer abzustoßen und aufs Meer hinauszufahren".

uni:view: Erinnern Sie sich zurück: Was haben Sie damals an Ihrem ersten Tag auf der Universität (Studium Evangelische Theologie) erlebt?
Wilfried Engemann: Drei Eindrücke: Am ersten Morgen meines Studiums bin ich gegen vier Uhr aufgewacht und – da ich nicht mehr einschlafen konnte – schließlich zum Leipziger Hauptbahnhof gelaufen, um dort zu frühstücken. Ich empfand es als ein kaum zu fassendes Privileg, dass ich in dieser wunderbaren Stadt für ein paar Jahre nichts anderes zu tun brauchte, als täglich etwas Neues dazuzulernen, und dass die vielen Menschen um mich herum mir das ermöglichten, ohne mich zu kennen.

Als ich später das Vorlesungsgebäude betrat – eine Gründerzeitvilla mit bürgerlichem Flair – und meinen Fuß auf die erste Steinstufe setzte, nahm ich die leichte Aushöhlung war, die sich im Laufe der etwa 100 Jahre dort eingelaufen hatte, und fragte mich, was ich im Laufe der Jahre wohl zur weiteren Abnutzung beitragen würde. Die erste Frage der ersten Stunde ging an mich: "Was ist in dem Satz 'Populus Romanus est populus Italicus' das Satzglied 'est populus Italicus', Herr Engemann?" Ich wusste es nicht, obwohl ich immer geglaubt hatte, im Deutschen fit zu sein. Die Moral von der Geschichte bzw. "Lektion Nr. 1": Allzu sicher geglaubtes Wissen ist oft nur Ausdruck des fehlenden Blicks für den größeren Zusammenhang.



Wilfried Engemann im April 1985 bei seiner Promotion. (Foto: privat)



uni:view: Welches Motto hat Sie während Ihres Studiums begleitet?

Wilfried Engemann:
Nachdem ich trotz mancher Benachteiligungen und Schikanen (wegen meines "falschen", nicht SED-konformen "staatspolitischen Bewusstseins") endlich studieren konnte, war es weniger ein Motto als vielmehr ein Grundgefühl, dass mich zwölf Semester lang durchgängig bestimmte: Das Gefühl, vom Ufer abzustoßen und aufs Meer hinauszufahren. An einer kirchlichen Hochschule in der DDR studierend – einer "Insel im roten Meer" –, verbrachte ich meine Studienjahre in dem Bewusstsein, irgendwann aufs Meer hinaus zu müssen und empfand dies als großes Abenteuer. Das lag keineswegs nur an den politischen Umständen (die hätte ich mir weniger abenteuerlich gewünscht), sondern mehr noch an der Weite, die sich mir mit dem Studium der Theologie unerwartet auftat.

uni:view: Was vermissen Sie am meisten an Ihrer Studienzeit?

Wilfried Engemann: Im Rückblick schätze ich an meiner Studienzeit eine gewisse "Selbstvergessenheit", mit der man sich voll und ganz in die Arbeit werfen konnte, ohne sich – von den Erwartungen der Familie abgesehen (bei vielen Studierenden eigene Familien mit Kindern) – sonst noch um etwas kümmern zu müssen. Alle Studierenden – ganz gleich, an welcher Hochschule sie eingeschrieben waren – erhielten ein bescheidenes, aber ausreichendes Stipendium. Der einzige "Druck", unter dem man stand, war der, dass entsprechende Institutionen und Firmen brennend darauf warteten, dass man endlich sein Examen machen und zur Verfügung stehen würde. Dass man mit dem, was man studiert, unmittelbar nach dem Studium gebraucht wird, stand für jeden meiner Kommilitonen außer Zweifel.

Dies war wohl – ohne dass uns das sonderlich bewusst war – auch eine Quelle starker Motivation und großer Gelassenheit. Viele Studierende müssen ihr Studium heute unter erschwerteren Bedingungen absolvieren und überschätzen sich dabei manchmal im Blick auf das, was sie zusätzlich zu einer "Ganztagsbeschäftigung" (die das Direktstudium zweifellos ist) noch erbringen können.



Eine Monatskarte der Leipziger Linien aus dem Jahr 1985. Von 1984 bis 1989 war Wilfried Engemann als wissenschaftlicher Assistent am Theologischen Seminar Leipzig tätig. (Foto: privat)



uni:view: Welche Tipps geben Sie Ihren Studierenden mit auf den Weg?

Wilfried Engemann:
Man sollte alles tun, um die Leidenschaft am Studium nicht zu verlieren, sonst ist "alles nur halb". Diesen Luxus – "mit Hingabe" Wissenschaft zu treiben – sollte man sich gönnen. Schließlich tut man ja im Studium nicht nur etwas, sondern man macht in dieser Zeit auch etwas mit sich und wird dabei jemand Bestimmtes. Es wäre fatal, wenn sich das nur in Fleiß, Anstrengung und in "Studienerfolgen" ausdrückte.

Kurz gesagt: Wer sich dauernd mit Wichtigem befasst, sollte nicht versäumen, sich auch mit dem Schönen zu befassen. In Sternstunden fällt beides zusammen – und damit komme ich noch einmal zu dem Meer bzw. dem Nachthimmel über ihm: Studierende sollten das Meer im Blick haben, wenn sie studieren, und sich nicht mit Pool-Landschaften begnügen. (red)
    


Wilfried Engemann studierte von 1977-1983 Evangelische Theologie am Theologischen Seminar Leipzig. 1985 Promotion an der Universität Rostock, 1989 Habilitation an der Universität Greifswald. Während seiner Zeit als Pfarrer der Marienkirche (1990-1994) zu Greifswald war er Privatdozent an der dortigen Universität. 1994 wurde er als Universitätsprofessor für Praktische Theologie an die Universität Münster berufen, im September 2011 folgte er dem Ruf an die Universität Wien an das Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie.