Wer lehrt, hat auch einmal studiert (Teil 6)

Soziologe Roland Verwiebe blickt für uni:view auf sein Studium zurück. Vor allem "Zeit" ist es, die er an diesem Lebensabschnitt vermisst. Und empfiehlt daher Studierenden: "Gründet Bands, spielt Theater, schreibt, dreht Filme, reist so lange und so weit wie es geht."

uni:view: Erinnern Sie sich zurück: Was haben Sie damals an Ihrem ersten Tag auf der Universität (Studium der Sozialwissenschaften) erlebt?
Roland Verwiebe: Die größte Herausforderung des ersten Studientags im Oktober 1991 war es, im riesigen Hauptgebäude der Humboldt-Universität zu Berlin die passenden Seminar- und Vorlesungsräume zu finden. Ich habe mich an diesem Tag mehrfach verlaufen und landete unter anderem im geschützten Bereich der Quästur der Universität. Das Niveau der fachlichen Diskussion, die intellektuelle Qualität von DozentInnen und älteren Studierenden war eine weitere Überraschung. Ich hatte in der Maturazeit nichts Vergleichbares erlebt. In den ersten Tagen des Studiums habe ich schnell begriffen, dass man von nun an auf sich allein gestellt ist; eine solche Erfahrung gab es in der Schulzeit nicht. Selbstorganisation, Eigeninitiative und selbstverantwortliches Aneignen von wichtigen Wissensbeständen waren enorm wichtig und mussten schnell erlernt werden.

Ein letzter Gedanke: In den ersten Tagen bin ich immer wieder an einer Inschrift im Treppenhaus des Foyers des Hauptgebäudes vorbeigelaufen. Dort prangt die elfte Feuerbach-These von Karl Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Das wirkte ein Jahr nach der deutschen Einheit anachronistisch, zugleich schien eine Aufforderung im Raum zu stehen.



Der damals 26-jährige Roland Verwiebe kurz vor Abschluss seines Studiums, welches er u.a. als Taxifahrer finanzierte. (Foto: privat)



uni:view: Welches Motto hat Sie während Ihres Studiums begleitet?
Roland Verwiebe:
Mein Studium hat mich ganz grundsätzlich interessiert, jeder Aspekt. Ort und Zeit waren perfekt, ich war in meiner Heimatstadt Berlin – genau dort, wo ich sein wollte. Bildung hat mich interessiert; ein Ort für Bildung war ein geschützter Raum, das galt es zu nutzen. Die Humboldt-Universität war 1990/91 und danach ein extrem interessanter Ort (von Kontinuität und Wandel), in einer einstmals zwischen Ost und West geteilten Stadt. Ohne diese sich damals täglich verändernde, selbst entdeckende, die Freiheit gewinnende Stadt konnte man diese Universität und ein Studium in ihr damals nicht denken. Kein kurzes bzw. direktes Motto, aber eine Haltung.

uni:view: Was vermissen Sie am meisten an Ihrer Studienzeit?
Roland Verwiebe:
Die freie Zeit, die viele Zeit; die Zeit zu lernen, zu lesen; die Zeit, mit Menschen zu sprechen, die Zeit zu reisen, die Zeit für fundamentale kritische Diskurse, die Zeit Neues auszuprobieren, die Zeit zu feiern.

uni:view: Welche Tipps geben Sie Ihren Studierenden mit auf den Weg?
Roland Verwiebe:
Ich halte es für fundamental wichtig zu verstehen, dass ein Studium an einer höheren Bildungseinrichtung ein Privileg ist, geschenkte Zeit.
Liebe Studierende: Nutzt diese Zeit, lest und lernt so viel wie ihr könnt, interessiert euch für Inhalte und Menschen, geht über Grenzen, behandelt euer Studium nicht als Pflichtveranstaltung UND: gründet Bands, spielt Theater, schreibt, dreht Filme, reist so lange und so weit wie es geht. (mw)


Roland Verwiebe studierte von 1991 bis 1997 Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Columbia University in the City of New York. Er promovierte 2003 in Berlin und arbeitete anschließend in Hamburg und Duisburg bevor er 2009 nach Wien wechselte. Seit 2009 ist er an der Universität Wien Professor für Sozialstrukturanalyse und Quantitative Methoden und seit August 2011 Vorstand des Instituts für Soziologie; 2013 war er als Gastwissenschafter wieder an der Columbia University tätig.