Wilfried Engemann: Praktische Theologie – zeitgenössisch und am Menschsein orientiert

Seit September 2011 ist Wilfried Engemann Professor für Praktische Theologie. Dem neuen Vorstand des Instituts für Praktische Theologie und Religionspsychologie ist es wichtig, die Funktion der Religion für das Menschsein zu erforschen.

Die Themen Freiheit und Würde des Menschen liegen Wilfried Engemann besonders am Herzen. Geboren und aufgewachsen in der DDR, hat er selbst erlebt, was es heißt, in der persönlichen Entfaltung eingeschränkt zu sein. So durfte er aus politischen Gründen nicht auf die "Erweiterte Oberschule". Erst nach einer Tischlerlehre konnte er an der damaligen Kirchlichen Hochschule Leipzig ein entsprechendes Ausbildungsprogramm absolvieren und 1978 mit dem  Studium der Evangelischen Theologie beginnen.

Gottesdienste für den Menschen

Glauben ist für den 53-jährigen kein Selbstzweck, sondern u. a. eine Haltung, die Menschen darin unterstützt, in Freiheit ihr Leben führen und Beziehungen pflegen zu können, in denen Liebe (Formen sozialer Zuwendung aller Art) empfangen und gewährt wird. Dass dabei auch Gottesdienste eine Rolle spielen, ist dem Theologen, der selbst in Deutschland als Pfarrer tätig war, wichtig: "Eine Predigt muss mehr sein als biblische Texte zu erklären und Menschen zu sagen, was sie alles falsch machen. Christliche Religion ist eine Kultur der Freiheit, wozu es gehört, dass Menschen nicht nur von 'Sünde, Tod und Teufel' befreit werden, sondern ihrer Freiheit durch ihr Wünschen, Wollen und Handeln auch Ausdruck geben. Dies ist oft gar nicht so einfach – und da kommt die Praktische Theologie ins Spiel."

Kommunikationsprozesse im Kontext kirchlicher Handlungsfelder

Die Praktische Theologie beschäftigt sich – ihrem Namen entsprechend – vor allem mit Theoriemodellen für die Praxis der christlichen Religion, wie z.B. Seelsorge- und Predigtkonzeption, Kasualien wie Trauungen, Beerdigungen, Taufen, Gemeindeentwicklung etc. Der Forschungsschwerpunkt von Wilfried Engemann liegt dabei auf den dazu nötigen Kommunikationskonzepten. So promovierte er an der Universität Rostock über "Persönlichkeitsstruktur und Predigt" und habilitierte an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald über die theologische Bedeutung der Zeichentheorie (Semiotik) Umberto Ecos, den er im Rahmen eines Forschungsaufenthalts in Bologna auch persönlich kennengelernt hat.

Die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen ist für den neuen Institutsvorstand unverzichtbar: "Wir können Studierende nicht in Predigtkultur unterrichten, ohne die Rahmenbedingungen zu vermitteln, mit denen sich zum Beispiel Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Sozialwissenschaften, Praktischen Philosophie und selbst Neurobiologie befassen." Neben einem Bild Umberto Ecos schmückt daher auch u.a. eines von Sigmund Freud sein Büro in der Schenkenstrasse.

Die (fast) vergessenen Werke Otto Haendlers

Derzeit leitet Wilfried Engemann ein DFG-Projekt über den Praktischen Theologen Otto Haendler (1890–1981). "Haendler hat Theologie bereits in den 1930er und  1940er Jahren anders gedacht. Mehr auf Menschen bezogen, v. a. auf die Rolle ihrer Subjektivität und Personalität für religiöse Kommunikation. Wichtige Texte – darunter Rundfunkbeiträge, Vorträge und Predigten – sind bisher unveröffentlicht, andere an entlegener Stelle publiziert. Ziel ist eine 5-bändige, die Rezeption von Haendler in der Literatur integrierende, Edition seiner praktisch-theologischen Schriften. "Dazu gehören die verschollen geglaubte Dissertation und Habilitation", erläutert Engemann das mehrjährige Projekt.

Von Münster nach Wien

"Obwohl es mir in Münster an nichts gefehlt hat, war es nach siebzehn Jahren noch einmal an der Zeit, etwas Neues anzufangen", erklärt der Wissenschafter seinen Wechsel an die Universität Wien und ergänzt: "Routine ist gut, aber es besteht auch immer die Gefahr in eine Art 'Autopilot-Modus' zu verfallen. Berufliche Abwechslung ist wichtig."

Der Umzug nach Wien birgt für Engemann zudem eine "gewisse biographische Poesie": "Ich wurde noch zu DDR-Zeiten unter widrigen Umständen für einen Vortrag nach Wien eingeladen. Das hat mich sehr berührt, denn ich dachte damals (1987), dass ich hier nie wieder hinkomme. Und nun bin ich doch hier", freut sich der Theologe.

Lebensleidenschaft


Wilfried Engemann geht es unter anderem darum, die anthropologischen Aspekte von Religion hervorzuheben. Dieses Denken möchte er auch an die Studierenden weitergeben: "Ich möchte sie dazu ermutigen, sich eine zeitgenössische Theologie anzueignen. Religion bedeutet nicht das Verwalten ewiger Wahrheiten. Sie hat eher mit Lebensleidenschaft zu tun. Theologen haben natürlich keine Copyrights auf Topoi wie 'Freiheit' und 'Liebe', aber Religion kann ein Weg dorthin sein." (mw)

Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Wilfried Engemann, Vorstand des Instituts für Praktische Theologie und Religionspsychologie zum Thema "Lebensgefühl und Glaubenskultur. Menschsein als Vorgabe und Zweck der religiösen Praxis des Christentums" findet am Montag, 4. Juni 2012 um 17 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien statt.