Sybille Steinbacher: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts
| 31. Mai 2012Wien ist eine der Lieblingsstädte von Sybille Steinbacher, seit Oktober 2010 Professorin für Zeitgeschichte. "An der Universität Wien gefällt mir besonders der Umgang mit der Tradition und deren sensible Verbindung mit der Moderne", so die Historikerin im "uni:view"-Gespräch.
uni:view: Was bedeutet die neue Professur an der Universität Wien für Sie?
Sybille Steinbacher: Ich empfinde die Professur als Auszeichnung und großes Glück. Nun am Institut für Zeitgeschichte zu sein, dessen Entwicklung ich immer aufmerksam verfolgt habe, ist für mich etwas Besonderes. Die Möglichkeit zu haben, Forschungen anzustoßen und voranzutreiben und dabei im internationalen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen zu stehen, ist wunderbar. Dass ich den Ruf nach Wien noch während meines Habilitationverfahrens erhielt, freut mich zudem ganz besonders.
uni:view: Wie gefällt Ihnen ihr neues Arbeitsumfeld?
Steinbacher: In Wien zu leben und zu arbeiten ist wunderbar. Ich fühle mich an "meinem" Institut und in "meiner" Fakultät sehr wohl. Mit Geduld vermitteln mir die Kolleginnen und Kollegen die Besonderheiten des österreichischen Hochschulsystems. Noch an keiner Universität habe ich übrigens einen so schönen Campus wie den der Universität Wien gesehen. Meine Bürofenster gehen auf den Hof eins hinaus, der mit seinen herrlichen alten Bäumen einfach ein Traum ist.
uni:view: Was sind Ihre Forschungsschwerpunkte?
Steinbacher: Im Mittelpunkt meiner Forschungen steht die Geschichte des 20. Jahrhunderts mitsamt ihren Folgewirkungen bis in unsere Gegenwart. Mein Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Diktaturen, Gewalt und Völkermord. Es geht darum, die historisch-politischen Besonderheiten des von vielen Massenverbrechen geprägten vergangenen Säkulums zu erschließen. Dabei widme ich der Geschichte des Nationalsozialismus, seiner Vor- und seiner Nachgeschichte in Deutschland und Europa besondere Aufmerksamkeit. Die Gewalt des Kalten Krieges, die ja die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, ist ein weiterer zentraler Bereich.
uni:view: Woran arbeiten Sie aktuell?
Steinbacher: Ich arbeite gerade an einer Publikation zum Thema "Der Holocaust und die Geschichte der Völkermorde im 20. Jahrhundert. Zur Bedeutung und Reichweite des Vergleichs". Im Herbst habe ich zu diesem Thema meine erste Konferenz in Wien veranstaltet, gemeinsam mit Kollegen vom Fritz Bauer Institut, dem Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt am Main. Der Band dazu wird im Herbst 2012 erscheinen.
uni:view: Was begeistert Sie an Ihrer Forschung?
Steinbacher: Mich faszinieren Fragen nach der Gesellschaft. Was lässt sich über gesellschaftliche Bedürfnisse und Wahrnehmungen sagen? Historiographiegeschichtlich interessiert mich das Thema ebenfalls: Ich befasse mich beispielsweise mit der Geschichte der Erforschung des Holocaust und frage nach der Einbindung der Zeithistoriker und -historikerinnen in die jeweiligen gesellschaftlichen Diskurse ihrer Gegenwart.
uni:view: Die Frage nach "der Gesellschaft" bleibt also stets im Mittelpunkt?
Steinbacher: Ich habe mich in meinen Publikationen zunächst intensiv mit Auschwitz und Dachau befasst, genauer: mit den gesellschaftlichen Zusammenhängen der Verfolgungsgeschichte im Nationalsozialismus. Über Dachau schrieb ich meine Magisterarbeit und über Auschwitz meine Doktorarbeit. Das soziale Umfeld der Konzentrations- und Vernichtungslager und die gesellschaftliche Rückbindung der deutschen Vernichtungs- und Gewaltpolitik stehen im Zentrum meiner Arbeiten. In meiner Habilitationsschrift wählte ich ein denkbar anderes Thema und verfolgte auch methodisch einen anderen, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Ansatz. Der Titel meiner Habilschrift lautet: "Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik." Auch hier geht es um "die Gesellschaft". Ich untersuche die sozialen, geschlechtergeschichtlichen, medien-, wirtschafts- und rechtspolitischen Zusammenhänge im Umgang mit Sexualität zwischen den späten vierziger und frühen siebziger Jahren in West-Deutschland.
Der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität ist das Thema von Sybille Steinbachers Habilitationsschrift (2011, Siedler Verlag) |
uni:view: Was ist Ihnen in der Lehre wichtig? Was möchten Sie Ihren Studierenden vermitteln?
Steinbacher: Ich möchte meine Studierenden anregen, aus eigenem Bedürfnis viel über das 20. Jahrhundert zu lesen. Es geht mir darum zu vermitteln, wie wichtig es ist, eigene tragfähige Fragestellungen zu entwickeln um ein Thema zu bearbeiten. Darüber hinaus möchte ich, dass die Studierenden lernen genau hinzuschauen, stringent zu argumentieren und präzise zu arbeiten, gerade auch in sprachlicher Hinsicht. Klar und verständlich sein zu wollen, muss – denke ich – ein Ziel der Zeitgeschichtsforschung sein, zu deren Selbstverständnis es ja gehört, aktuelle Debatten mitzugestalten.
uni:view: Und zu guter Letzt: Welche Ziele stehen für Sie in nächster Zeit an?
Steinbacher: Sobald der Band über den "Holocaust und die Geschichte der Völkermorde" fertig ist, werde ich mich zwei Publikationsvorhaben zur Diktaturgeschichte widmen. Das mache ich in den USA, wo ich die beiden kommenden Semester sein werde. Das Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. bot mir sein Ina Levine Invitational Scholar Fellowship an. Ich freue mich über diese Einladung sehr. Ja, Wien werde ich dann vermissen. (mw)
Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Sybille Steinbacher, Professorin für Zeitgeschichte - Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozidforschung am Institut für Zeitgeschichte, zum Thema "Der Holocaust und andere Massenverbrechen. Überlegungen zum Völkermord im 20. Jahrhundert" findet am Mittwoch, 6. Juni 2012 um 18 Uhr im Kleinen Festsaal statt.
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