Michele Calella: Klassische Musik spricht keine Universalsprache

Seit März 2010 hat Michele Calella die Professur für Neuere historische Musikwissenschaft inne. Der gebürtige Italiener beschäftigt sich u.a. mit Musiktheorie und Musikauffassung im Spätmittelalter und der Neuzeit sowie mit Oper und Musikästhetik des 18. Jahrhunderts. Als Musiker fasziniert ihn auch die Musik des 19. Jahrhunderts. In seiner Antrittsvorlesung am Montag, 10. Jänner 2010, spricht Calella zum Thema "Imaginierte Natur: Franz Liszt und die musikalische Konstruktion der Schweiz".

"1990 habe ich Italien verlassen, um in Regensburg ein Auslandssemester zu absolvieren. Seitdem habe ich nicht mehr in meinem Geburtsland gelebt", erzählt Michele Calella vom Institut für Musikwissenschaft von den Stationen seiner wissenschaftlichen Karriere. Nach Regensburg folgte ein Forschungs- und Arbeitsaufenthalt in Paris sowie das Doktoratstudium der Musikwissenschaft, Mittellateinischen Philologie und Romanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Danach war Calella als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Marburg tätig, bevor er 2001 nach Zürich wechselte und dort seine Habilitation verfasste. In Wien ist er nun schon eine ganz Weile - bereits 2005 folgte er dem Ruf an die Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien. Seit März 2010 forscht und lehrt Calella an der Universität Wien.

Anregendes Lehren und Forschen


"Im Vergleich zu anderen, mir bekannten musikwissenschaftlichen Instituten ist das Angebot an der Universität Wien besonders breit: Daher empfinde ich es wohl auch als das interessanteste Institut, das ich bisher erlebt habe", so der neue Professor: "Inhaltlich sind drei Ausrichtungen vertreten: Systematische Musikwissenschaft, historische Musikwissenschaft und Ethnomusikologie. Im deutschsprachigen Raum gibt es nicht viele Institute, an denen alle drei Bereiche Platz finden. Hinzu kommt, dass es hier über 1.000 Studierende gibt - das macht das Leben zwar nicht immer einfach, dafür aber die Lehre sehr anregend."

Von der Oper zu musikalischen Autorenschaft


Die Opernforschung des 18. Jahrhunderts ist ein zentraler Forschungsschwerpunkt des Wissenschafters. In diesem Zusammenhang leitet Calella aktuell ein FWF-Projekt: Darin untersucht er mit zwei Mitarbeiterinnen, wie italienische Opern für die Wiener Bühne bearbeitet wurden und welche Aufführungsbedingungen sowie ästhetische Ansprüche einer solchen Bearbeitung zugrunde lagen.

Eines seiner weiteren Forschungsthemen ist die Frage nach der Autorschaft musikalischer Werke im kulturellen Kontext: Warum ist es für uns wichtig, den Namen eines Komponisten zu kennen? Inwiefern interessieren uns die Lebensgeschichten von KomponistInnen? Darüber hinaus beschäftigt sich der Experte für Musiktheorie und Musikauffassung im Spätmittelalter und der Neuzeit mit Konzertmusik und dem Konzertleben des 19. Jahrhunderts.

Musikwissenschafter und Musiker

Michele Calella ist nicht nur begeisterter Musikhistoriker, er musiziert auch gerne selbst: "Ich spiele Klavier - am liebsten Repertoire aus dem 19. Jahrhundert - und bin dilettierender Countertenor. Das Klavierspiel hat meine Vorliebe für deutsche Musik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts geprägt. In Wien gibt es für Musikliebhaber natürlich unzählige Angebote. Ich muss aber gestehen, dass ich nicht so häufig zu Opern- und Konzertaufführungen gehe, wie manch andere KollegInnen aus beispielsweise der Mathematik oder Medizin. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass Musik für mich auch Arbeit ist und daher manchmal ein Roman oder ein Film entspannender sein kann als eine 40 Minuten lange Symphonie ", lacht Calella.

Kulturelle Verankerung von Musik

Ein breites Spektrum an Musikkulturen zu vermitteln, ist das erklärte Ziel des neuen Professors: "Wir schreiben und reden sehr viel über Musik. Zu beachten ist, dass diese Beschreibung immer auf bestimmten narrativen Strategien beruht, die kulturell unterschiedlich sein können. Es ist mir wichtig, dass meine StudentInnen Musik immer auch aus einer kulturellen Perspektive betrachten. Musik hat keine universellen Werte - wie einige meinen, sondern ist immer kulturell verankert. Das gilt auch für klassische Musik - sie spricht keine Universalsprache, sondern vermittelt Klanglichkeiten, die kulturell unterschiedlich kodiert werden können."

Wichtig ist Michele Calella auch, den Dialog zwischen MusikwissenschafterInnen und MusikerInnen zu initiieren bzw. aufrechtzuerhalten: "Ihre Beziehung zueinander ist ein bisschen angespannt. Es gibt gewisse Vorurteile, die in einzelnen Fällen stimmen können. Viele von uns haben aber eine musikalische Ausbildung, und MusikerInnen profitieren in ihrer Praxis oft von den Erkenntnissen der Musikwissenschaft."

Franz Liszt in der Schweiz

Als eine der interessantesten Gestalten der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts nennt Michele Calella den Komponisten Franz Liszt. Ihm wird er auch seine Antrittsvorlesung widmen: Im ersten Zyklus der "Années de pèlerinage" entwirft Liszt ein spezifisches, musikalisch geformtes Landschaftsbild der Schweiz. Daran begeistert den Musikwissenschafter die Verbindung zwischen Literatur, bildlicher Darstellung und Musik. "Liszt zitierte beispielsweise Schiller, Byron oder Senancourt - Schlüsselfiguren der literarischen  Klassik und Romantik - und legte großen Wert auf die Titelillustration der einzelnen Stücke. Meine Vorlesung wird daher eine musikliterarische Reise, zu der ich herzlich einlade", schließt Calella. (dh)

Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Michele Calella vom Institut für Musikwissenschaft zum Thema "Imaginierte Natur: Franz Liszt und die musikalische Konstruktion der Schweiz" findet am Montag, 10. Jänner 2010 um 17 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien statt.