Martin Kusch: Brücken zur Philosophie bauen

Angewandte Wissenschaftstheorie und Theorie des Wissens sind die Fachgebiete des Philosophieprofessors Martin Kusch. An der Universität Wien freut sich der vielgereiste Philosoph über die große akademische Community, mit der er sich zu "seinen" Themen austauschen kann.

Auf ungewöhnliche Art und Weise kam Martin Kusch zur Wissenschaftsphilosophie. "Ein Zufall des Lebens brachte mich auf dieses Thema: Als ich mein Doktorat an der Universität Oulu in Finnland beendete, gab es keine Stellen in der Philosophie, dafür aber in der Wissenschaftsgeschichte. Also habe ich mich beworben – ohne auch nur das Geringste von Wissenschaftsgeschichte zu verstehen – und die Stelle seltsamerweise auch bekommen", schmunzelt er.

Nach seiner Beschäftigung mit Marxismus, Hermeneutik und Phänomenologie – "ganz klassische philosophische Traditionen" – begann sich Kusch nun intensiv mit Michel Foucault und französischer Wissenschaftsphilosophie und -geschichte auseinanderzusetzen: "Die Richtung, durch die ich zur Wissenschaftstheorie kam, war stark mit soziologischen, politischen und historischen Fragen verbunden."

Von dort war es für Martin Kusch kein großer Sprung zur Wissenschaftssoziologie, welche Wissenschaft unter Berücksichtigung von Machtverhältnissen, Kontroll- oder Unterdrückungsmechanismen analysiert: "Was mich daran besonders reizte – und das gilt bis heute –, ist, dass sich Foucaults Fragen auch auf die Naturwissenschaften bezogen stellen lassen."

Wem gehört Wissen?

Grundfragen der Wissenschaftssoziologie und der soziologisch beeinflussten Wissenschaftsphilosophie, mit denen sich Kusch in mehreren Publikationen und Buchprojekten auseinandersetzte, lauten u.a.: Wie beeinflussen soziologische Faktoren die Wahl zwischen wissenschaftlichen Theorien? Ist wissenschaftliches Wissen das Besitztum von Individuen oder von Gruppen? Kann ein einzelner Wissenschafter bzw. eine Wissenschafterin überhaupt etwas wissen, oder ist er oder sie vom Wissen anderer abhängig?


Buchtipp I: Martin Kusch, "Knowledge by Agreement: The Programme of Communitarian Epistemology", Oxford University Press.



"Ich habe versucht, die WissenschaftssoziologInnen davon zu überzeugen, dass die Wissenschaftsphilosophie durchaus wichtige Ideen und Werkzeuge enthält. Das heißt, ich habe versucht, Brücken zwischen Wissenschaftssoziologie und Philosophie zu bauen. Damit beschäftigen sich nahezu alle meiner Publikationen", so Kusch: "In einem meiner Bücher, in dem es um die Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts geht, versuche ich zum Beispiel, die Philosophie in ihrer Entwicklung soziologisch zu verstehen. In einem anderen geht es um die Frage, wie sich die Erkenntnistheorie wandeln muss, wenn sie den Ergebnissen der Wissenschaftssoziologie gerecht werden will."


Von Cambridge …

Nach Lehraufträgen an den Universitäten Toronto und Auckland zog es Martin Kusch erst an die Universität Edinburgh, wo er von 1993 bis 1996 als Assistenzprofessor in der Wissenschaftssoziologie wirkte, und dann an die Universität Cambridge, wo er von 1996 bis 2000 Assistenzprofessor, 2000 bis 2003 Associate Professor, und von 2003 bis 2009 Professor für Wissenschaftsphilosophie war. "Rückblickend kann ich gar nicht sagen, was mich an Cambridge reizte – vielleicht habe ich schlicht das Wertesystem englischer AkademikerInnen übernommen, wonach jede Karriere in Cambridge oder Oxford enden muss", meint Kusch lächelnd: "Einer der großen Vorteile von Cambridge ist natürlich, dass alles, was in der Wissenschaft Rang und Namen hat, früher oder später mal wenigstens zum Vortrag dorthin kommt."


Buchtipp II: Martin Kusch, "A Sceptical Guide to Meaning and Rules: Defending Kripke's Wittgenstein", Acumen & McGill-Queen's.



… nach Wien

An Martin Kuschs ehemaligem Institut in Cambridge, dem "Department of History and Philosophy of Science", waren nur drei Philosophen beschäftig. Daraus ergab sich der Wunsch, an ein größeres und "rein" philosophisches Institut zu wechseln. "Just kam die Stellenausschreibung der Universität Wien, und ich wusste, dass Wien in vieler Hinsicht ein guter Platz für mich wäre: Ich kannte hier schon einige WissenschaftsforscherInnen, die ich sehr schätze, wie z. B. Mitchell Ash, Ulrike Felt, Mona Singer oder Friedrich Stadler. Darüber hinaus blickt Wien auf eine lange Tradition in der Wissenschaftstheorie zurück." An der Universität Wien konzentriert sich Kusch nun weniger auf philosophiehistorische Themen als auf systematische Gegenwartsprobleme der Wissenschaftsphilosophie und der Erkenntnistheorie.

Grundsteine für solide Ausbildung legen

Nicht nur die eigene Forschung, sondern auch die Lehre hat für Martin Kusch einen hohen Stellenwert: "In Cambridge hatten wir pro Jahr 20 bis 25 Studierende. Hier sind es mehrere Tausend. Mich interessiert es, herauszufinden, inwieweit man die pädagogischen Vorteile einer intensiven Betreuung auch bei größeren Gruppen umsetzen kann." Weiters ist es für Kusch selbstverständlich, dass er selbst auch Einführungsvorlesungen hält, "denn in solchen Lehrveranstaltungen werden die Grundsteine einer soliden Ausbildung gelegt." (td)

Univ.-Prof. Dr. Martin Kusch hält am Freitag, 2. März 2012 um 17 Uhr im Kleinen Festsaal seine Antrittsvorlesung zum Thema "Relativismus und Skeptizismus".