Kerstin von Lingen: "Nationalsozialistisches Unrecht in unser Bewusstsein heben"

Im Interview spricht die neue Professorin für Zeitgeschichte, Kerstin von Lingen, über die "inspirierende Mischung aus Historie und Moderne" der Stadt Wien, die vielfältigen Möglichkeiten an der Uni Wien und ihre Forschungen zu Krieg, Vertreibung und Holocaust. Ihre Antrittsvorlesung hält sie am 2. Juli, 15 Uhr.

uni:view: Sie haben seit März 2019 die Professur für Zeitgeschichte – Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozidforschung an der Universität Wien inne. Was hat Sie persönlich daran interessiert – nach vielen Jahren an der Universität Heidelberg – an die Universität Wien zu kommen?
Kerstin von Lingen: Wien ist natürlich ein sehr attraktiver Standort, zum einen als Uni, zum anderen auch als Stadt. Zudem arbeite ich seit Jahren in meinem Forschungsfeld Nachkriegsjustiz sehr eng mit österreichischen Kolleginnen und Kollegen zusammen, Wien war mir also sehr vertraut.

Ich sehe Wien als eine Schnittstelle, zum einen geographisch zwischen West- und Osteuropa, dann ideell, in dieser unglaublich inspirierenden Mischung aus Historie und Moderne, und zuletzt natürlich die Uni Wien mit ihren vielfältigen internationalen Beziehungen. Ich habe die bisherigen zwei Jahre hier in Wien aber schon genützt, um mich meinen österreichischen Kolleginnen und Kollegen vorzustellen, und mich in universitären Gremien zu engagieren – ich bin inzwischen Vize-Sprecherin der Doctoral School unserer Fakultät.

Der Wechsel nach Wien war für Zeithistorikerin Kerstin von Lingen sowohl Fortführung ihrer transnationalen Karriere als auch logische Folge ihrer globalhistorischen Interessen, wie sie es ausdrückt. Zuvor war sie acht Jahre lang an der deutschen Spitzenuni Heidelberg als Nachwuchsgruppenleiterin im Exzellenzcluster tätig, welches sich mit den Austauschbeziehungen zwischen Europa und Asien beschäftigt hat.

Meine Wiener Professur ist zudem stark auf den Holocaust fokussiert – tragischerweise hat Wien ja im Nationalsozialismus eine der größten jüdischen Gemeinden Europas verloren, was sich in den Archiven der Stadt niederschlägt. Kurz, Sie können hier auf vielen Ebenen auf Spurensuche gehen. Zudem ist auch die aktuelle Gedenkkultur in Wien sehr spannend, ein weiterer Forschungsschwerpunkt von mir. Ich nenne hier nur das österreichische Holocaust-Mahnmal "Mauer der Namen", das gerade buchstäblich vor meinem Bürofenster am Campus im Ostarichi-Park entsteht, und welches das wachsende Bewusstsein für das begangene Unrecht ausdrückt. Es wird im Herbst 2021 eröffnet werden. Dennoch bleibt noch viel zu tun, um die vielen Dimensionen nationalsozialistischen Unrechts in unser Bewusstsein zu heben.

Die Antrittsvorlesung von Kerstin von Lingen, Professorin für Zeitgeschichte, Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozidforschung, findet am Freitag, 2. Juli 2021, um 15 Uhr statt und wird live gestreamt. Kerstin von Lingen spricht über "Geraubt, gelagert – gesühnt? Kulturgüter im Zugriff der Nationalsozialisten und vor alliierten Gerichten".

uni:view: In Ihrer Antrittsvorlesung sprechen Sie über "Kulturgüter im Zugriff der Nationalsozialisten und vor alliierten Gerichten". Können Sie kurz erläutern, warum Sie die Thematik der Kulturgüter für Ihre Antrittsvorlesung ausgesucht haben?
Kerstin von Lingen: Wir betrachten den Holocaust heute oft vom Ende her, und von den enormen Opferzahlen. Das ist natürlich richtig, aber ich möchte mit meinem Vortrag den Blick auf die Begleiterscheinung des Mordens lenken – den Raub. Durch die Vertreibungen haben sich viele Nazi-Funktionäre und Profiteure auf allen Hierarchieebenen enorm bereichert, ohne jegliches Unrechtsbewusstsein. Sprachlich wurde dies dann mit Begriffen wie "sicherstellen" oder "verwerten" verschleiert, und dies zeigt die institutionelle Perversion des "Kulturgüterschutzes" im Nationalsozialismus. Es geht in meinem Vortrag daher zum einen um jüdisches Raubgut, aber auch um einen spektakulären Fall nationalen Raubs – die Verbringung von Teilen der Uffizien nach Südtirol. Das alles bündle ich anhand der Sonderverwaltungszonen in Oberitalien, die damals zum Deutschen Reich gehörten. Gerade österreichische Akteur*innen hatten in diesem Grenzraum Interessen, die teilweise noch aus dem imperialen Selbstverständnis der Habsburgerzeit herrührten.

uni:view: Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehören Genozid- und Gewaltgeschichte, insbesondere Holocaust. Wie sind Sie persönlich zur Zeitgeschichte und Ihren Schwerpunkten gekommen?
Kerstin von Lingen: Mein Lebensthema als Historikerin ist das Wiederherstellen von wie auch immer gearteter "Gerechtigkeit". Ich frage mich, wie es möglich ist, nach extremen Gewalterfahrungen, wie etwa Krieg, Vertreibung oder Holocaust, wieder eine gesellschaftliche Balance herzustellen. Wie kann man den Opfern Genugtuung widerfahren lassen und Täter ausfindig machen und strafen? Da dies direkt in den unmittelbaren Nachkriegsjahren nur sehr rudimentär möglich war, kommen heutigen Initiativen, die oftmals nur symbolisch diese Ordnung wiederherstellen, enorme Bedeutung zu. Die Forschung zu "Apology and Forgiveness", meinem zweiten großen Forschungsfeld, spricht hier von "Healing", also Heilung.

Der Staat kann viel dafür tun, seine moralische Glaubwürdigkeit zu erhöhen, wenn erst einmal ausgesprochen wird, dass hier Unrecht passiert ist. Eine Rede, eine Ausstellung ist da schon ganz enorm wichtig. Erst kürzlich konnte man das anhand der deutschen Entschuldigung für den Völkermord an den Herero in Namibia beobachten. Aber natürlich bin ich keine Juristin, und mir ist bewusst, dass solche Maßnahmen von den Regierenden auch deshalb so gefürchtet sind, weil sie vermeintlich unkontrollierbar monetären Forderungen Tür und Tor öffnen. Persönlich bin ich wie gesagt der Meinung, dass unsere internationalen Beziehungen von Anerkennung historischen Unrechts mehr profitieren würden, als die Zurückhaltung aus Angst vor Reparationsforderungen rechtfertigt.

uni:view: Was sehen Sie als Ihre Aufgabe an, neben Ihren Forschungen?
Kerstin von Lingen: Nachwuchsförderung ist mir sehr wichtig. Ich möchte gern irgendwann auf mein Berufsleben zurückblicken, und nicht nur die Bücher im Regal zählen, sondern auch die Menschen an meinem inneren Auge vorbeiziehen lassen, die ich zu Master- und Doktorarbeiten begleitet und akademisch inspiriert habe. Dabei besonders meine weiblichen Studierenden zu fördern, ist mir sehr wichtig. Ich habe in Heidelberg eine Forschungsgruppe geleitet, die aus vier Doktorandinnen bestand. Obwohl sie erst kürzlich alle ihre Dissertation abgegeben haben, ist eine schon direkt auf dem Weg zur Professur. Das macht mich sehr stolz. Als "Doktormutter" ist man ja in gewisser Weise auch emotional verbunden, ähnlich wie zu den eigenen Kindern.

Kerstin von Lingen ist Co-Sprecherin der Vienna Doctoral School of Historical and Cultural Studieserfahren Sie mehr!

uni:view: Kommen wir zum Abschluss noch zur Lehre: Was ist Ihnen wichtig, den Studierenden zu vermitteln und mit auf den Weg zu geben?
Kerstin von Lingen: Meine Ansprüche an die Studierenden sind relativ hoch, zumindest eilt mir inzwischen dieser Ruf voraus. Ich möchte vor allem, dass sie am Ende meiner Lehrveranstaltung in der Lage sind, die Sekundärliteratur so einzuordnen, dass sie eigenständig komplexe Quellen analysieren können. Ein Beispiel dafür sind etwa meine Seminare zur Nachkriegsjustiz. Von den Masterstudierenden erwarte ich, dass sie im Archiv an ihrem Thema arbeiten, denn jeder, der Historiker oder Historikerin wird, muss meiner Meinung nach einmal ein Archiv von innen gesehen haben. Wir arbeiten dann also zum Beispiel mit Prozessunterlagen, für Historiker*innen ja doch eher eine ungewöhnliche Quelle, aber kombinieren das mit Zeugenaussagen, Tagebüchern und Briefen, um die Opferperspektive deutlicher zu reflektieren.

Ich blicke daher meinem ersten Jahrzehnt an der Uni Wien sehr optimistisch entgegen, und habe auch schon diverse Ideen für Forschungsprojekte, die ich hier umsetzen möchte.

uni:view: Herzlichen Dank für das Interview! (td)