Inge Stephan: Die Rolle des Geschlechts in der Wissenschaft

Die Literaturwissenschafterin Inge Stephan hat als Gastprofessorin schon viele Universitäten rund um den Globus besucht – zuletzt in Teheran (Iran). Im Sommersemester 2015 kommt die renommierte Expertin für Gender Studies als Käthe-Leichter-Professorin nun an die Universität Wien.

"Ich wusste schon während meines Studiums, dass ich weiter wissenschaftlich arbeiten möchte. Allerdings hatte ich durchaus Schwierigkeiten, mich für ein konkretes Fachgebiet zu entscheiden", erinnert sich Inge Stephan an die Anfänge ihrer akadamischen Karriere zurück. Zur Auswahl standen tatsächlich gleich mehrere Fächer, schließlich hatte die aufstrebende Forscherin mit Germanistik, Geschichte, Politik und Philosophie an den Universitäten Hamburg und Clermont-Ferrand ein breit gefächertes Studienpensum absolviert. "In meinem ersten Jahr als Dozentin hatte ich noch Lehraufträge in Geschichte. Dann habe ich mich aber für die Literaturwissenschaft entschieden und diese Entscheidung bis heute nicht bereut", schildert sie.

Hamburg, Berlin ...

Nach der Promotion war Stephan 1971 zunächst als Assistentin, von 1983 bis 1994 dann als Professorin für Neuere deutsche Literatur in Hamburg tätig, wo sie u.a. die Arbeitsstelle für Feministische Literaturwissenschaft mitbegründete und leitete. Anschließend folgte der Wechsel in die deutsche Bundeshauptstadt. "Ich bin nach Berlin berufen worden, um die Arbeit, die ich in Hamburg aufgebaut hatte, dort weiter zu führen", erklärt die Wissenschafterin. An der Humboldt-Universität hat sie neben ihrer Professur mit Denomination in den Gender Studies auch als Gründungsmitglied den Masterstudiengang Geschlechterstudien entscheidend mitgeprägt.

Auch an der Entwicklung und Umsetzung eines interdisziplinären Graduiertenkollegs zum Thema "Geschlecht als Wissenskategorie" hat sie mitgewirkt. "Interdisziplinarität ist mir in meiner Arbeit besonders wichtig. Ich habe stets nicht nur versucht, Germanistik, Geschichte, Politik und Philosophie zusammen zu bringen, sondern auch die Literatur- auf eine Kulturwissenschaft zu erweitern", betont die Forscherin ihre ambitionierte Zielsetzung.

... und die ganze Welt

Und sie hat es geschafft: In der Fachwelt gilt Inge Stephan heute als eine der Mitbegründerinnen der kulturwissenschaftlichen Germanistik. Sie verfügt über eine umfangreiche Publikationsliste sowie eine gefragte Expertise, die sie etwa als Fachausschussvorsitzende in der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder als Fachgutachterin für verschiedene internationale Institutionen einbringt.

Besonders gerne wird sie auch als Gastprofessorin eingeladen. "Ich war schon an zahlreichen Hochschulen in Europa, den USA, Asien und Afrika. Mein letzter Aufenthalt war in Teheran. Sie können sich vorstellen, dass das nicht leicht für mich war, da ich mich auch an die dortigen Gegebenheiten anpassen musste", so die Gender-Expertin.

Geschlechtliche Codes

Ihre Forschungsschwerpunkte sind vielseitig und umfassen die Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Feministische Literaturwissenschaft und Gender Studien, Antikerezeption und Psychoanalyse. "Meine zentrale Frage ist: Welche Rolle spielt Geschlecht in der Wissenschaft? Mich interessiert, inwieweit geschlechtliche Codes Eingang in die verschiedenen Wissenschaftsbereiche finden", erläutert Stephan. "Und natürlich will ich auch herausfinden, wie sich das auswirkt: Sind solche Einflüsse vielleicht notwendig und produktiv oder haben sie eher negative Effekte und führen zur Marginalisierung?"

Aktuell beschäftigt sich die vielseitige Forscherin mit zwei großen Buchprojekten: einem Handbuch zum relativ unbekannten Sturm und Drang-Schriftsteller Jakob Michael Reinhold Lenz und einem Werk zum Thema "Kälte und Kältefantasien". Letzterem wird sie auch ihre Käthe-Leichter-Vorlesung im April widmen. "Dabei werde ich versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum in der Gegenwartsliteratur so auffällig oft mit Kältemetaphoriken – z.B. in Elfriede Jelineks 'Winterreise' oder Robert Schindels 'Der Kalte' – gearbeitet wird", erläutert Stephan.

"Spannende Zeit" in Wien


Für ihr Gastsemester an der Universität Wien hat sie sich – wie sie selbst sagt – "eine besonders spannende Zeit" ausgesucht. "Ich habe schon einiges von den Jubiläumsfeierlichkeiten mitbekommen, habe mir den Eröffnungsfestakt im Festsaal und die Vesper im Stephansdom angesehen. Das war sehr beeindruckend", berichtet die Käthe-Leichter-Professorin, die im laufenden Semester drei verschiedene Lehrveranstaltungen anbietet. "Obwohl mir die Förderung begabter Frauen sehr am Herzen liegt, sind meine Lehrveranstaltungen keine reinen Frauenförderseminare, sondern richten sich genauso an Männer. Ich möchte beide Geschlechter für bestimmte Themen sensibilisieren", stellt Stephan klar.

Während ihrer Zeit in Wien will die Mutter dreier erwachsener Kinder aber auch privat ein reichhaltiges Programm absolvieren. "Die Gastprofessur gibt mir die Möglichkeit, nicht nur professionelle Kontakte zu vertiefen, sondern auch die Stadt zu entdecken. Im Moment begeistere ich mich gerade sehr für den medizinisch-historischen Teil der Wiener Geschichte. Ich habe mir beispielsweise den Narrenturm am Campus angesehen und will demnächst auch ins Josephinum", so die Literaturwissenschafterin. (ms)

Die Käthe-Leichter-Vorlesung von Prof. Dr. Inge Stephan, Käthe-Leichter-Gastprofessorin für Frauen- und Geschlechterforschung an den Instituten für Germanistik, Theater-, Film- und Medienwissenschaften sowie Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft, zum Thema "Kälte als Topos in der Gegenwartsliteratur – Überlegungen zu Alexander Kluge, Robert Schindel und Elfriede Jelinek" findet am Dienstag, 21. April 2015, um 19 Uhr in der Aula am Campus der Universität Wien statt