Zwischen Tradition und Subversion

Für die "Vienna Digital Studies Platform" analysiert Ji Sun Kim vom Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien koreanische Volkslieder auf politische Subtexte – und stellt dabei grundlegende Veränderungen in der südkoreanischen Protestkultur fest.

"Koreanische 'Minyo' sind Volkslieder, die das gesellschaftliche Leben reflektieren", erklärt Ji Sun Kim von der Abteilung Koreanologie am Institut für Ostasienwissenschaften. Im Rahmen ihrer Digital Lecture "Korean folk songs" untersucht sie das traditionelle Liedgut Koreas und den sozio-politischen Kontext, in dem sie gesungen werden. "Volkslieder erreichen die Massen. Und in Zeiten repressiver Politik werden sie zu einem Medium für Kritik und Protest", so die junge Wissenschafterin.

Protestbewegung der 70er Jahre

So geschah es auch mit dem poetisch anmutenden Song "Morgentau". Das Lied der koreanischen Musik-Ikone Kim Min-Ki hat zwar keinen offenen politischen Charakter, avancierte aber in den südkoreanischen Studentenprotesten der 70er Jahre zum Symbol des Widerstandes. "Inspiriert durch die in Amerika tobende 'Hippie-Bewegung' wurde Kritik an der südkoreanischen Militärdiktatur laut. Laut im wahrsten Sinne des Wortes: Die jungen Revolutionäre sangen Lieder", berichtet Ji Sun Kim.

Eine politische Dimension

"Die Seoul National University war das Epizentrum dieser Proteste. Die Studierenden lernten dort kritisches Denken und hatten den rigorosen Führungsstil satt. Sie kämpften für Freiheit und Demokratie", erzählt die Forscherin. Die südkoreanische Regierung reagierte auf die Proteste mit Gewalt und Verboten: 1972 wurde jegliche Verbreitung des Liedes "Morgentau" untersagt, und das Tragen von langen Haaren oder Schlaghosen unter Strafe gestellt. "Die Regierung hat die Moden der 'Hippie-Bewegung', aber vor allem den Song aufgrund vermeintlicher Kritik unterdrückt. Erst durch dieses Verbot nahm das Lied eine politische Dimension an", so Ji Sun Kim. 

Korea "vernetzt": Das internationale Projekt "Vienna Digital Korean Studies Platform" unter der Leitung von Rainer Dormels vereint internationale Forschungsarbeiten rund um Korea – zu Themen wie Exportwirtschaft oder Verstädterungsprozesse in Nordkorea.

Protestkultur in Asien

Trotz des Verbots durch die Regierung hat der Song überdauert und wird noch immer bei Protesten gesungen. Es wird heute nicht mehr um Demokratie gekämpft, sondern es sind Themen wie Flüchtlingsströme, Annäherung an Nordkorea oder Import von Nahrungsmitteln, die weite Teile der Bevölkerung beschäftigen. "Im 'Westen' fällt oft auf, dass AsiatInnen 'nicht auffallen' – aber tatsächlich gibt es in Asien auch heute noch eine massive Protestkultur", berichtet Ji Sun Kim: "Die Formen des Widerstandes haben sich allerdings verändert. Das Lied nimmt noch immer eine wichtige Rolle ein, aber die RevolutionärInnen schreien nicht und werfen auch keine Steine."

Stiller Protest

Ganz im Gegenteil: Kerzenschein, Stille oder leiser Gesang sind für aktuelle Proteste in Südkorea charakteristisch. "Ich war in Seoul bei einem 'Kerzenprotest' mit dabei: Die Leute werden nicht mehr laut und wollen damit verhindern, dass Medien eine verzerrte Darstellung verbreiten. Wenn sie leise protestieren, signalisieren sie Dialogbereitschaft und niemand kann ihnen Aggressivität unterstellen. Es ist ein beeindruckender Kontrast, die friedliche Masse und ringsherum bewaffnete PolizistInnen zu sehen … Das wirkt!", erinnert sich die Südkoreanerin an ihren Heimatbesuch zurück.

Mehr als K-Pop und Gangnam

"Mit koreanischer Musik verbindet die Mehrheit der Studierenden K-Pop oder Gangnam, aber das Volkslied spielt in der koreanischen Kultur seit jeher eine wichtige Rolle", so Ji Sun Kim. Sie möchte einen anderen Zugang schaffen und Interesse für weitere Auseinandersetzung mit dem traditionellen Liedgut wecken.

Die Digital Lecture ist dafür ein geeignetes Instrument: "Die digitalen Materialien können mehrfach und von überall aus konsultiert werden. Im individuellen Lerntempo können Inhalte selbständig erarbeitet werden", so Ji Sun Kim über ihr ambitioniertes Subprojekt.

"So wie der Morgentau, der die Nacht lang fiel, nun an den Gräsern hängt, schöner als Perlenschmuck, so fällt tropfenweise von meinem Herzen die Trauer, lerne ich hier auf dem Hügel des Morgens ein kleines Lächeln."

Hörbeispiel:
"Morgentau" (Text: Kim Min-Ki/Gesang: Ji Sun Kim/Gitarre: Julian Schneeberger/Foto: Seoul National University)

Volkslieder neu interpretiertFür die "Vienna Digital Studies Platform" hat Ji Sun Kim die koreanischen Volkslieder nicht nur analysiert, sondern auch neu aufgenommen. "Ich habe mich mit befreundeten MusikerInnen getroffen und wir haben die Songs gemeinsam interpretiert. Unter anderem war mein langjähriger Freund Julian Schneeberger von der Band 'Garish' bei den Aufnahmen beteiligt, und für 'Morgentau' habe ich – obwohl es wirklich nicht meine Stärke ist – selbst gesungen", schmunzelt die musikalische Wissenschafterin. Die anderen beteiligten MusikerInnen waren Seolhee Yun (Gesang), Carmen Manera (Klavier) und Alexander Wollmann (Percussion).

Musik, Wissenschaft und Deutschlernen

Die gebürtige Südkoreanerin Ji Sun Kim hat bereits in Südkorea, Japan, den USA und Kanada gelebt und studiert. Mit 18 Jahren kam sie nach Österreich und studierte Konzertfach und Musikpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst. "Ich war fleißig: Musik, Deutschlernen und Wissenschaft waren mein Leben", lacht die ambitionierte Forscherin. Mittlerweile forscht und lehrt sie an der Abteilung Koreanologie  am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien: "Die Forschung macht mir Spaß, es gibt so viele spannende Dinge da draußen." (hm)

Die vorgestellte Digital Lecture "Korean folk songs" von Mag. Ji Sun Kim, PhD ist Teil der "Vienna Digital Korean Studies Platform." Das Projekt läuft noch bis 2016 und wird von der Academy of Korean Studies finanziert und regelmäßig evaluiert. ForscherInnen der Universität Wien, der Central European University in Budapest  und der Sofia University arbeiten an unterschiedlichen Subprojekten, veranstalten regelmäßig Workshops, Symposien und stellen Material digital zur Verfügung.