Zwischen Dorf und Metropole

Im Fokus der Stadtforschung liegen komplexe Großstädte, urbane Transformationsprozesse und Kleinstädte. Das Dazwischen – die "Mittelstädte" – wurden bisher kaum untersucht. Brigitta Schmidt-Lauber vom Institut für Europäische Ethnologie nimmt sich diesen nun am Beispiel von Wels und Hildesheim an.

Eine Ursache für den Fokus der Stadtforschung auf Dörfer und Metropolen sieht Brigitta Schmidt-Lauber in der herkömmlichen Annahme einer linearen Entwicklung von Städten, mit der eine einseitige, normative Definition von Urbanität verbunden ist. "Davon distanziert sich die kulturwissenschaftliche Stadtforschung jedoch", betont die Europäische Ethnologin: "In unserem Projekt geht es darum, die Pluralität von Stadtleben und Urbanitäten aufzuzeigen."

Persönliche Erfahrung

Interesse für mittelstädtische Urbanitäten entwickelte die Wissenschafterin, als sie 2006 an die Universität Göttingen berufen wurde und zum ersten Mal in einer Stadt mit weniger als 200.000 EinwohnerInnen lebte. "Die Modi der Alltagsbewältigung, die ich mir in großstädtischen Umfeldern angeeignet habe, greifen in Göttingen nicht", schildert sie ihre Erfahrung: "Es gibt eine andere Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Privatheit sowie eine andere Rhythmisierung des Tagesablaufs. In Göttingen war es etwa üblich, in der Mittagspause von der Arbeit nach Hause zu fahren, was in Großstädten eher die Ausnahme darstellt."


Wels mit 58.713 EinwohnerInnen ist eine alte Industriestadt, in der der tertiäre Wirtschaftssektor bis heute eine weniger bedeutsame Rolle einnimmt.



Mittelstädtische Alltagspraxen

Seither widmet sich Schmidt-Lauber der kulturwissenschaftlichen Erforschung spezifisch mittelstädtischer Alltagspraxen und Erfahrungsmodi. Aus dieser Auseinandersetzung resultierten bisher u.a. eine interdisziplinäre Fachtagung und ein Sammelband zum Thema "Mittelstadt". Mit ihrer Berufung an die Universität Wien im Jahr 2009 brachte sie das Thema mit ans Institut für Europäische Ethnologie. "Im aktuellen FWF-Projekt fragen wir in vergleichender Perspektive nach einer mittelstädtischen Typik der Städte Wels und Hildesheim", beschreibt die Institutsvorständin das Forschungsvorhaben, in das auch DissertantInnen und DiplomandInnen vom Institut für Europäische Ethnologie eingebunden sind.

Differenzierte Betrachtung

Die gängige Begriffsbestimmung von Mittelstadt bezieht sich noch immer auf die Internationale Statistikkonferenz von 1887, derzufolge Städte mit 50.000 bis 100.000 EinwohnerInnen als Mittelstädte bezeichnet werden. "Diese ausschließlich numerische Definition ist aber nicht ausreichend", kritisiert die Wissenschafterin die begriffliche Verengung: "Es bedarf sowohl einer Kontextualisierung der EinwohnerInnenzahl als auch der Einbeziehung weiterer Perspektiven".

Von großer Bedeutung sei etwa der regionale und nationale Kontext. "Verschiedene Regionen weisen unterschiedliche Urbanitätslandschaften auf", erklärt Schmidt-Lauber exemplarisch: "Während Deutschland von einer Polyzentralität gekennzeichnet ist, nimmt in Österreich Wien die zentrale Stellung ein." Um den Vergleich der Einbettung in diese unterschiedlichen Urbanitätslandschaften zu ermöglichen, wurden eine österreichische und eine deutsche Stadt als Fallbeispiel gewählt.

Wels und Hildesheim

Ausschlaggebend für die Wahl von Wels und Hildesheim ist ihre Position als "Second City" in der jeweiligen Region. Beide Städte stehen sowohl ökonomisch als auch infrastrukturell in einer klaren Nachordnung zu den Landeshauptstädten Linz bzw. Hannover. Darüber hinaus ist relevant, dass keine der beiden Städte durch ein spezielles "Label" – etwa einen großen Industriekonzern oder als touristischer Anziehungspunkt– gekennzeichnet ist. Dennoch weisen die beiden Mittelstädte auch Unterschiede auf, die den Vergleich lohnen: So ist die Einwohnerzahl mit 102.903 (Hildesheim) gegenüber 58.713 (Wels) verschieden und während Hildesheim als Kultur- und Bildungsstadt gilt, ist Wels eine alte Industriestadt, in der der tertiäre Wirtschaftssektor bis heute eine weniger bedeutsame Rolle einnimmt.


Hildesheim mit 102.903 EinwohnerInnen gilt als als Kultur- und Bildungsstadt.



Das "Mittelstädtische"

Was das alltägliche Leben in Wels und Hildesheim für verschiedene AkteurInnen ausmacht und wie das "Mittelstädtische" in den Köpfen und Handlungen geschaffen wird, untersucht das Forschungsteam in zwei fünf- bis acht-monatigen Feldforschungsphasen vor Ort: "Vordergründig geht es darum, in das Alltagsleben einzutauchen", erklärt Schmidt-Lauber das methodische Vorgehen, "etwa durch teilnehmende Beobachtungen oder Interviews mit BewohnerInnen. Ergänzend führen wir von Wien aus Medien- und Literaturanalysen durch." Angeregt durch das Forschungsprojekt plant die Institutsvorständin, ethnographische Stadtforschung und Wien-Ethnographie als Studienschwerpunkte am Institut für Europäische Ethnologie zu etablieren. (sh)

Das FWF-Projekt "Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim" unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Brigitta Schmidt-Lauber, M.A., Vorständin des Instituts für Europäische Ethnologie, läuft von Oktober 2011 bis September 2014. ProjektmitarbeiterInnen sind Wiebke Reinert und Georg Wolfmayr, als Diplomandin ist Katrin Ecker eingebunden.