Wirtschaftsstark – aber nicht pflegeleicht

Multifunktionale Pflegeeinrichtung, riesiger Wirtschaftsbetrieb, Kreditanstalt, Aushängeschild und Werbeplattform der Stadt Wien. Das alles war das Wiener Bürgerspital der Frühen Neuzeit. Die HistorikerInnen Sarah Pichlkastner und Martin Scheutz wollen nun mehr über die Menschen dahinter erfahren.

Spittelau, Bürgerspitalgasse, Lazarettgasse: Heute erinnern nur mehr einige Straßen- und Ortsnamen in Wien an die einstige "Stadt in der Stadt": In der Frühen Neuzeit gab es in Europa etwa 10.000 Spitäler – eines der größten war das Wiener Bürgerspital. Altersheim, Waisenhaus und Krankenhaus sahen sich unter einem Dach vereint – eine riesige multifunktionale Pflegeinrichtung. "Es war kein Krankenhaus im heutigen Sinn – die medizinische Versorgung war eigentlich fast Nebensache", erklärt die Historikerin Sarah Pichlkastner von der Universität Wien. Im Rahmen eines FWF-Projekts unter der Leitung von Martin Scheutz will sie nun mehr über die BewohnerInnen dieser "Kleinstadt" erfahren.


Spitäler gehörten zu den bedeutendsten Sozialeinrichtungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Es waren Heime zur Unterbringung jener, die ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Arbeit verdienen oder aus Ersparnissen decken konnten bzw. nicht von Angehörigen gepflegt wurden. Im Bild: Das Areal des Wiener Bürgerspitals kurz vor dem Umbau in ein Zinshaus, 1769 bis 1773. (Quelle: Privatarchiv Martin Scheutz)


Buchhaltung des 16. Jahrhunderts

"Der Untersuchungszeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert ist bewusst gewählt", erzählt Pichlkastner. Denn das im 13. Jahrhundert von Wiener Bürgern gegründete Spital lag bis 1529 vor dem Kärntnertor – am heutigen Karlsplatz. Im Zuge der Türkenbelagerung wurde es zerstört und übersiedelte danach in die Stadt. "Diese Zäsur markiert meinen Untersuchungsbeginn – ab diesem Zeitpunkt ist noch viel unerforscht", so die Historikerin, die für ihre Forschungsarbeit unzählige Rechnungsbücher des Bürgerspitals akribisch durchforstet. Insassenverzeichnisse sind – vereinzelt – erst ab dem 17. Jahrhundert erhalten.
 
Insassen waren Nebensache

Um etwas über die Menschen des Spitals zu erfahren, muss die junge Historikerin in den detaillierten Ausgaben- und Einnahmenlisten viel zwischen den Zeilen lesen: "Das Bürgerspital war ein Wirtschaftskonzern, ein wichtiges Standbein der städtischen Wirtschaft, für den die Zahlen und nicht die Menschen im Vordergrund standen – was sich natürlich in den Quellen widerspiegelt."

Die Einrichtung finanzierte sich über Äcker, Wälder und Weinberge selbst. Kapital wurde gewinnbringend angelegt oder als Kredit vergeben – auch an den Kaiserhof. So gelang es dem Wirtschaftsbetrieb stets, schwarze Zahlen zu schreiben. Am meisten Geld floss dabei über den Bierausschank in die Spitalskassa, seit dem Mittelalter hielt die Pflegeeinrichtung in Wien das Bierbrau- und Schankmonopol.


Dank Gründer-Donationen und testamentarischen Stiftungen verfügte das Bürgerspital über unzählige Weinberge, Äcker, Wälder und war nach dem Wiener Hof der größte Arbeitgeber der Stadt. Auch der heutige Spittelberg gehörte zur Grundherrschaft des Bürgerspitals.



Um Gottes Lohn

Doch wer waren die Menschen hinter den bewachten Spitalsmauern? Arme, Alte, Pilger, Waisenkinder sowie Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen – all jene, die nicht für sich selber sorgen konnten, wurden im Bürgerspital versorgt. "Während die Armen um Gottes Lohn aufgenommen wurden, kauften sich die Reicheren zu besseren Bedingungen ein: Die Abgaben waren dabei nach Vermögen gestaffelt", erzählt die Historikerin.

Unterschieden wurde dabei nicht nur zwischen bürgerlich und nicht-bürgerlich, sondern auch zwischen einheimischen und nicht-einheimischen Insassen. "Die Versorgung in der Frühen Neuzeit war an das Heimatprinzip gekoppelt – d.h. es hatten nur diejenigen Anspruch auf Versorgung, die entweder in Wien geboren wurden oder aufgrund eines längeren Aufenthalts das Unterstützungsrecht erworben hatten", erklärt Pichlkastner. "Für Untertanen, für die nicht Wien zuständig war, die aber im Bürgerspital versorgt wurden, kam der jeweilige Grundherr auf."

Wartesaal des Todes


Viel wichtiger als die medizinische war im Spital die geistliche Versorgung. Der Tagesablauf war genau geregelt und die Insassen absolvierten ein langes Betprogramm, um ihren Stiftern Dank abzustatten. "Spitäler der Vormoderne waren klosternahe Einrichtungen, wo man sich mit Beten und Buße auf den Tod vorbereitete", so Sarah Pichlkastner. Im Bild: Die Bürgerspitalkirche St. Klara. (Quelle: Privatarchiv Martin Scheutz)



Der Tagesablauf im Spital wurde streng kontrolliert – das Gebet hatte oberste Priorität. Wer es verweigerte, verlor den Spitalsplatz. Und einen solchen zu ergattern war ein Glücksfalls – das belegen die langen Wartelisten und unzähligen Bittschriften zur Aufnahme. Und das, obwohl sehr strenge Regeln galten: Die gesunden Insassen mussten für die kranken sorgen und alle anfallenden Arbeiten verrichten: von Hausarbeit über Holzhacken bis hin zu Erntearbeiten. "Daher ist es auch schwierig, das Pflegepersonal von den Insassen abzugrenzen", erklärt die Dissertantin.

PR für die Stadt

Das Spital war nicht nur ein privilegierter Ort der Altersversorgung und Wirtschaftsbetrieb – sondern auch Werbefläche für die Stadt: Bei Prozessionen waren die Insassen und das Personal immer präsent. Adelige sowie das Kaiserpaar besuchten das Spital in regelmäßigen Abständen und spendeten dabei werbewirksam einige Dukaten. Reisende besuchten immer auch die Spitäler einer Stadt: "In der Frühen Neuzeit war man auf dem Weg zu einer Wissensgesellschaft. Es diente der Expertise eines jungen Adeligen, sich anzuschauen, wie sich andere Städte organisieren und wie sie ihre Bedürftigen versorgen", so Pichlkastner.


Im 16. Jh. nahm das Bürgerspital bereits erste Züge eines Lehrkrankenhauses an: Die Studenten der medizinischen Fakultät mussten wöchentlich die Armen – natürlich unentgeltlich – im Spital versorgen, und es fanden erste öffentliche Leichenobduktionen im Hof des Bürgerspitals statt. Damals wurde noch zwischen akademischen Ärzten, die Patienten "nur von außen" betrachteten, und Handwerkschirurgen – den Badern – unterschieden. 



Nicht zuletzt waren Spitäler auch Gebäranstalten. "Um Kindsmord zu kontrollieren und einzudämmen, versuchte die Stadt Wien, Frauen zur Geburt ins Spital zu bringen. Vor allem ledige Dienstmägde aus dem Umland kamen zum Gebären hierher", so Pichlkastner. Ab dem 18. Jahrhundert wurden die "ungewollten" Kinder nicht mehr im Spital selber gepflegt, sondern zur Adoption aufs Land gegeben – jedoch mit erschreckenden Todesraten.


Im 18. Jh. begann sich das Bürgerspital aufzusplittern – einzelne Zweige wurden ausgelagert, so kamen z.B. die Gebärenden nach St. Marx. Joseph II. strukturierte die Armen- und Krankenversorgung schließlich völlig neu und gründete das AKH. Das Bürgerspital wurde in ein Zinshaus umgebaut und um 1880 schließlich abgerissen. Die Mittel des Bürgerspitals gingen in den Bürgerspitalsfond über, der bis in die 1930er Jahre Bestand hatte.



Altersheim, Waisenhaus, Obdachlosenheim, Findelhaus: Im Bürgerspital waren alle Vorformen heutiger Institutionen vereint. Während das Bürgerspital heute komplett aus dem Wiener Stadtbild verschwunden ist, erinnern nur noch einige Namen – sowie die Bürgerspitalsapotheke – an die einstige Kleinstadt in Wien: So war z.B. die Spittelau eine Insel in der Donau, wo zu Pestzeiten Quarantäne-Stationen eingerichtet waren. Und spaziert man durch die Wälder rund um Wien, stolpert man schon mal über den einen oder anderen Grenzstein, der zeigt, wie weitläufig die Besitzungen des einstigen Bürgerspitals waren. (ps)

Das FWF-Projekt "Personal, Insassen und Organisationsform des Wiener Bürgerspitals in der FNZ" läuft von 1. Oktober 2013 bis 30. September 2016 unter der Leitung von ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Martin Scheutz vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung und vom Institut für Geschichte. Projektmitarbeiterin ist Mag. Sarah Pichlkastner, MA vom Institut für Österreichische Geschichtsforschung.