Wien und seine Gedenkkultur
| 20. Januar 2016Stolpersteine, Denkmäler, Tafeln: Erinnerungszeichen gibt es in Wien viele. Doch wie genau wird der Opfer des Austrofaschismus und Nationalsozialismus gedacht? Das untersuchen die Politikwissenschafter Walter Manoschek und Peter Pirker mit ihrem Team in einem aktuellen Projekt.
Wie viele Denkmäler, Tafeln, Straßennamen, Gedenkstätten o.ä. für die Opfer von austrofaschistischer und nationalsozialistischer Gewalt fallen Ihnen spontan ein, wenn Sie an Ihren Bezirk, Arbeitsweg oder Lieblingsplatz in Wien denken? Die Politikwissenschafter Walter Manoschek und Peter Pirker von der Universität Wien haben knapp 2.000 solcher Erinnerungszeichen "gefunden", deren Entstehung sie nun erstmals umfassend analysieren.
"Wir gehen auch der Frage nach, wie der öffentliche Raum durch geschichtspolitische Interventionen verändert worden ist und wer an diesen Prozessen beteiligt war", erklärt Peter Pirker, der gemeinsam mit Walter Manoschek das zweieinhalbjährige Projekt "Politics of Remembrance" leitet. Ihr Zugang ist interdisziplinär: "Ein Methodenmix aus quantitativen Erhebungen und qualitativen Zugängen und unsere unterschiedlichen Spezialisierungen erlauben es uns, Untersuchungen zu Raum, Zeit, AkteurInnen und Bedeutungen miteinander zu verknüpfen", betont Walter Manoschek.
Interdisziplinarität ist bei dem Projekt "Politics of Remembrance" nicht nur ein Schlagwort, sondern wichtige Voraussetzung: das Team besteht aus den Politikwissenschaftern Walter Manoschek (li.), Peter Pirker (re.), Mathias Lichtenwagner und Johannes Kramer, der Kulturanthropologin Monika Palmberger, dem Historiker Magnus Koch, der Landschaftsarchitektin Eva Schwab und dem Landschaftsarchitekten Philipp Rode. (Foto: Universität Wien)
1.946 Wiener Erinnerungszeichen
Die insgesamt 1.946 Erinnerungszeichen, die das Team in Wien erfasst hat, setzen sich aus 1.786 permanenten Objekten und 160 temporären Interventionen im öffentlichen Raum zusammen. "Dass es so viele sind, hat uns überrascht", erläutert Walter Manoschek, und fährt fort: "Wenig überraschend war dagegen, dass in den Jahren zwischen 1952 bis 1988 am wenigsten Erinnerungszeichen in Wien errichtet wurden. Zu einer nachhaltigen Veränderung kam es erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Ab Mitte der 2000er Jahre wurden vor allem Erinnerungszeichen für ermordete Jüdinnen und Juden gesetzt."
Gründe dafür sind u.a. der EU-Beitritt Österreichs 1995, die Gründung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus im selben Jahr. "1995, also 50 Jahre nach Kriegsende, hat sich einiges in Bewegung gesetzt. Das waren strukturelle Aspekte wie die Öffnung für die international dominant gewordene Erinnerung an die Shoah, aber auch neue Biographie zentrierte Forschungen, die mittel- und langfristig die Erinnerungspolitik stark beeinflusst haben", so Walter Manoschek
Die häufigste Erinnerungsform in Wien stellen Gedenktafeln dar. Seit etwa zehn Jahren dominieren allerdings in Gehsteigen eingelassene "Steine der Erinnerung". An etwa 470 Orten verlegten verschiedene Initiativen einzelne oder mehrere solcher kleiner Erinnerungszeichen. Im Bild: Ein Gedenkstein in der Baumannstraße im 3. Bezirk (Weitere Infos im uni:view-Artikel "Gedenksteine für jüdische Opfer des Nationalsozialismus"; Foto: Universität Wien)
Wer setzt sich wofür ein
Vor allem für die Periode seit 1995 untersuchen die WissenschafterInnen außerdem die Rolle und Vernetzung der verschiedenen staatlichen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen. Es zeigt sich: In den letzten 20 Jahren fand eine verstärkte transnationale und translokale Vernetzung statt, beispielsweise zwischen Wiener AkteurInnen und weltweiten Angehörigen von Shoah-Opfern.
"Der Bund dagegen ist als Stifter von Erinnerungszeichen kaum präsent – weniger als 40 Zeichen wurden in Wien von ihm direkt seit 1945 errichtet", erklärt Peter Pirker. Seit 1995 treten verstärkt neue AkteurInnen aus der Zivilgesellschaft auf, wie beispielsweise Vereine und Nachbarschaftsinitiativen, die die Erinnerungen in ihren jeweiligen Grätzln pflegen und die Stadtpolitik mit beeinflussen.
Digitale Karte der Erinnerung
Ein innovativer Ansatz des Projekts ist die Perspektive auf den gesamten Stadtraum als Erinnerungslandschaft. Mit einem Geoinformationssystem werden alle Erinnerungszeichen in eine digitale Karte eingetragen und aus den Attributen themen- und gruppenspezifische Layer erstellt. "Durch die relationale und zeitbezogene Darstellung lassen sich einerseits Schichten der Erinnerung, andererseits Verschiebungen in der erinnerungspolitischen Nutzung des Stadtraumes erkennen", erklärt der Landschaftsarchitekt Philipp Rode von der Universität für Bodenkultur.
Anders als bei exemplarischen Analysen von Denkmälern wird der Stadtraum damit als stetig bearbeitete, von Konflikten und Koalitionen durchzogene Erinnerungslandschaft sichtbar. Neben der wissenschaftlichen Anwendung arbeitet das Team an einer nutzerfreundlichen digitalen Karte der Erinnerung, die Museen und Ausstellungen angeboten werden soll. Eine einfache Version davon soll Ende Jänner online gehen, um Stakeholdern und Interessierten Rückmeldungen zu ermöglichen.
Die hier abgebildete Karte zeigt beispielsweise alle zwischen 1945 und Sommer 2015 in Wien errichteten Erinnerungszeichen an, wobei die gelben Stellen alle Erinnerungszeichen gegen antisemitische Gewalt markieren. (Grafik: Philipp Rode und Peter Pirker)
Prominente Orte der Erinnerung und manche "Leerstelle"
Neben der quantitativen Auswertung führen die WissenschafterInnen auch eine qualitative Analyse von sechs prominenten Wiener Erinnerungsorten durch, u.a. des Deserteursdenkmals am Ballhausplatz, des Heldendenkmals am Heldenplatz und des Shoah-Denkmals am Judenplatz. "Wir schauen uns die Erinnerungszeichen genauer an, die eine hohe politische Symbolik haben. Zugleich analysieren wir bestimmte Agglomerationen, also beispielsweise Grätzl, in denen sich in den letzten 20 Jahren viel in puncto Erinnerungszeichen und Interventionen im öffentlichen Raum getan hat", erläutert Walter Manoschek.
Ein Element der Untersuchung betrifft die explizite Nennung von politischer Gewalt auf Erinnerungszeichen, insbesondere bei KünstlerInnen und WissenschafterInnen. "Damit untersuchen wir die Verschiebung und Transformation von erinnerungskulturellen Referenzrahmen", so Peter Pirker. Bei vielen Erinnerungszeichen für WissenschafterInnen und KünstlerInnen werden zwar deren Verdienste erinnert, nicht aber zentrale biographische Erfahrungen wie Exil oder Deportation.
Ein Beispiel: Eine 1997 errichtete Parkbenennungstafel im Moriz-Mayer Park in Hernals, die an den 1884 geborenen Komponisten Moriz Mayer erinnert, erwähnte zunächst nicht, dass er und seine Frau von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Interventionen von Familienangehörigen aus Dänemark und dem Bund sozialistischer Freiheitskämpfer Hernals führten 2012 dazu, dass die Stadt Wien die Tafel neu textierte (siehe Bildkasten).
Nach Interventionen ist auf der Parkbenennungstafel im Moriz-Mayer-Park seit 2012 auch Folgendes zu lesen: "Er wurde mit seiner Ehefrau Grete (geboren 10. August 1897) im Oktober 1941 ins Ghetto Lodz (Litzmannstadt) deportiert, wo beide unbekannten Datums ermordet wurden." (Foto: Wikimedia CC0 1.0)
Öffentliche Erinnerung gestalten
"Wir hoffen, dass unsere Forschungen einen Beitrag zur gesellschaftlichen Reflexion darüber leisten, wie politische Gewalt im öffentlichen Raum erinnert und bedacht werden kann", betonen Walter Manoschek und Peter Pirker. Auch soll das Projekt aufzeigen, wie die Aufmerksamkeit für Erinnerungszeichen erhöht werden kann, etwa durch die stärkere Einbeziehung in die alltagskulturelle Nutzung und Wahrnehmung öffentlicher Räume. (mw)
Das Projekt "Politics of Remembrance" unter der Leitung von ao. Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek und Dr. Peter Pirker läuft vom 1.1.2014 bis zum 1.6.2016 und wird vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) sowie vom Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus gefördert.