Wie ÖsterreicherInnen gemacht werden

ÖsterreicherIn ist man nicht, man wird es. Und öffentliche und politische Debatten sind an diesem Prozess beteiligt. In ihrem FWF-Projekt untersuchen die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak und ihr Team, wodurch sich österreichische Identität/en heute im Vergleich zu den Jahren 1995 und 2005 auszeichnen.

Mit ihrem FWF-Projekt zu österreichischen Identität/en 2015 am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien knüpft Ruth Wodak an ihre vorangegangenen Forschungen an. Bereits in den Jahren 1995 und 2005 war sie mit ihren Arbeitsgruppen dem "Österreichisch-Sein" auf der Spur, das sie auf Basis politischer Reden, Mediendebatten, Ausstellungen, Fokusgruppen und Interviews untersuchte.

Ruth Wodak ist Professorin i.R. an den Universitäten Wien und Emerita der University Lancaster/UK. Sie war die erste Wittgenstein-Preisträgerin (1996). Ihr FWF-Projekt "Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität/en 2015: Eine Longitudinalstudie" ist am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien angesiedelt.

Identitätsbildung unter der Lupe

Neben Projektleiterin Wodak und Co-Leiter Rudolf de Cillia gehören heuer auch die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen Markus Rheindorf (Postdoc) und Sabine Lehner (Praedoc) zum Team. Die ForscherInnen zeigen, dass die Selbstwahrnehmung als Österreicher bzw. Österreicherin mit gesellschaftlichen Entwicklungen, Politik und Medien eng verwoben ist und wie sich diese Vorstellungen verändern.

Für diese einzigartige Langzeitstudie bietet die Universität Wien einen optimalen Forschungsstandort. Das methodische Werkzeug liefert die Kritische Diskursanalyse, insbesondere der diskurs-historische Ansatz, den Wodak selbst mitentwickelt hat und der im Instrumentarium der Sozial-, Sprach- und Kulturwissenschaften längst ein fester Bestandteil ist. Unterstützung erhält das Team durch regelmäßige Treffen mit internationalen WissenschafterInnen, einem Advisory Board verschiedener Disziplinen.

Das Logo des Projekts "Österreichische Identität/en 2015". Es symbolisiert die Wechselwirkungen in der Entwicklung dieser Identitäten zwischen Österreich und anderen Ländern, z.B. durch die Abgrenzung zu anderen.

Gedenken und "Störungen"

Ein Kernbereich des Projekts sind Jahrestage geschichtsträchtiger Ereignisse wie die Kapitulation Hitlerdeutschlands am 8. Mai 1945 oder die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955. Hierbei untersuchen die SozialwissenschafterInnen der Universität Wien, mit welchen Bildern Politik, Medien, Ausstellungen oder Gedenkfeiern die Ereignisse (wieder)erzählen und wie Bezüge zur Gegenwart durch bestimmte Narrative hergestellt werden.

In diesem Zusammenhang seien auch "Störungen" besonders interessant – Geschehnisse also, "die man nicht vorhersehen kann, aber die den Ablauf des Gedenkjahres irritieren", erläutert Wodak. So ging der EU-Beitritt 1995 mit einer Debatte über die österreichische Neutralität einher. Im Jahr 2005 löste der damalige BZÖ-Bundesrat Siegfried Kampl einen Skandal mit seinem Ausspruch aus, Wehrmachtsdeserteure seien "zum Teil Kameradenmörder" gewesen.

Diese Analysen liefern den ForscherInnen Anstöße und Gegenperspektiven für Interviews und Fokusgruppen, also Gruppendiskussionen mit TeilnehmerInnen aller Bevölkerungsschichten und Regionen Österreichs.

Wurst, Gabalier und der "nationale Körper" ("Body-Politics")

Darüber hinaus stellt das Projekt Fallstudien an, die einzelne Momente der Identitätsbildung genauer analysieren. Dazu gehört der sogenannte "nationale Körper": "Nationale Identität definiert sich über ein Territorium, das metaphorisch auch als Körper wahrgenommen wird", erklärt die Projektleiterin.

Debatten über den Sport sind eine Möglichkeit, sich dem "österreichischen Körper" anzunähern, denn "SportlerInnen werden als Markenkennzeichen für die österreichische Identität immer wichtiger", stellt Wodak fest. Aufschlussreich ist auch der mediale Rummel um Conchita Wurst und Andreas Gabalier, die gegensätzliche Vorstellungen und Ideale von Geschlecht, Geschlechterrollen und sexueller Orientierung repräsentieren.

Während Conchita Wurst nach ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 für viele ÖsterreicherInnen und Europäer ein Symbol von Liberalität und Vielfalt der Lebensentwürfe geworden ist, löste der "Volks-Rock'n'Roller" Gabalier heftige Diskussionen aus, als er 2014 die österreichische Bundeshymne sang, aber die geschlechtergerechten Änderungen aussparte. "Wir befinden uns an einem Scheideweg, was die Geschlechterrollendefinitionen betrifft", beschreibt Wodak die Situation. "Gabalier vs. Wurst – wie will man ÖsterreicherInnen in Zukunft sehen?"

Literaturtipp:
Im September 2015 erscheint Ruth Wodaks neue Monographie "The Politics of Fear. What Right-Wing Populist Discourses Mean".

Kontinuitäten nach 1945

Auf die Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs legt das Projekt besonderes Augenmerk.

"Es ist jetzt nach einem halben 'Projektjahr' bereits klar, dass es diesmal große Unterschiede zu den vergangenen Studien gibt. 2005 wurde Österreich im Rückblick auf das Jahr 1945 und die sogenannte 'Stunde Null' mit Metaphern wie 'das unschuldige Kind' oder 'Phönix aus der Asche' beschrieben. Heuer sehen wir in Medien oder Ausstellungen erstmalig ein Hervorheben von Kontinuitäten."

Derzeit beherrscht das Thema Flüchtlinge die öffentliche Debatte. Zeltlager wie hier im Jenfelder Moorpark bei Hamburg sind ein wiederkehrendes Symbol. (Foto: An-d/Flickr)

Bemerkenswert sei die Aussage von Bundespräsident Heinz Fischer anlässlich des 70. Jahrestages der Ausschwitzbefreiung am 27. Jänner im Rahmen eines ZIB II Interviews gewesen. Er zitierte den deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck "Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz" und betonte, dass dies auch für Österreich gelte.

Unter Bilder von Booten, Zelten und beschworene Krisen-Szenarien in Medien und Politik mischen sich in der Debatte Solidarität und Protest wie hier auf einer Demonstration. (Foto: Martin Juen/Flickr)

Von Einzelstudien zum Gesamtbild

Weitere Fallstudien betreffen Rechtspopulismus, Diskussionen um Flüchtlinge sowie die Folgen der Finanzkrise. Eine Pilotstudie galt dem Begriff der "Integrationsunwilligkeit". Dieser war lediglich im rechten politischen Lager gebräuchlich, bis er nach Charlie Hebdo und dem Attentat auf einen koscheren Supermarkt in Paris und im Vorfeld der Wahlen im Burgenland und in Steiermark eine ungeahnte, parteiübergreifende Konjunktur erfuhr.

"Gemeinsam mit dem langfristigen Vergleich seit 1995 ergeben diese Teilstudien ein Gesamtbild, über das sich österreichische Identität bzw. Identitäten erschließen lassen", sagt Ruth Wodak abschließend. (jr)

Ruth Wodak ist Mitorganisatorin des Symposiums Gender_Language_Politics vom 22. bis 23. Oktober 2015. Das Symposium bildet die Abschlussveranstaltung des Schwerpunkts Gendergerechtigkeit im Rahmen des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien.
Link zum Programm

O. Univ.-Prof.in i.R. Dr.in Ruth Wodak leitet das Forschungsprojekt "Zur diskursiven Konstruktion österreichischer Identität/en 2015: Eine Longitudinalstudie" am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Das Projekt erhält Unterstützung vom FWF und läuft von Jänner 2015 bis Dezember 2017. Ruth Wodak – Wittgenstein-Preisträgerin 1996 – ist auch Emerita und Distinguished Professor an der Lancaster University/UK.