Wie Ideen "wandern"

Von Erasmus bis Voltaire: Welche Theorien wurden wann und von wem aufgegriffen und diskutiert? Der Historiker Thomas Wallnig hat eine "COST Action" – ein EU-weites Forschungsnetzwerk – mitbegründet, um sich der "mehrstimmigen Geschichte der Europäischen Gelehrtenrepublik" anzunähern.

Auch in der frühen Neuzeit wurden Forschungsergebnisse international diskutiert. Heute bezeugen europaweit mehrere hunderttausend Briefe – von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert – diese rege Gelehrtenkorrespondenz. Doch weil bisher keine Einigkeit über technische, bibliothekarische und editorische Standards bestand, sei dieses Material nicht im Ganzen durchsuchbar, erklärt Thomas Wallnig vom Institut für Geschichte der Universität Wien: "Nun wollen wir alles, was an Gelehrtenkorrespondenzen in Europa vorhanden ist, in einer großen Datenbank zusammenführen."

Auf die Idee, selbst ein Netzwerk im europäischen Programm "COST – Cooperation of Science and Technology" – auf die Beine zu stellen, brachte den Historiker ein Bericht im Online-Magazin der Universität Wien über eine COST Action, die von Ingrid Metzler von der Forschungsplattform Life-Science-Governance koordiniert wurde: "Daraufhin bin ich an Ingrid Metzler herangetreten, die mir mit hilfreichen Tipps für den Forschungsantrag zur Seite stand", bedankt sich Wallnig. Zentrale Anlaufstelle wurde Howard Hotson von der University of Oxford, mit dem er nun gemeinsam – Wallnig ist stv. Leiter – die erfolgreich eingereichte COST Action koordiniert.


650 Jahre Universität Wien
Der Historiker Thomas J. J. Wallnig beschäftigt sich auch mit der Geschichte der Universität Wien: In seinem Beitrag zur Jubiläumsringvorlesung widmet er sich den einschneidenden Reformen des Bildungswesens unter Maria Theresia und unter ihrem Sohn Joseph II. (Foto: Maria Theresia empfängt den Rektor der Universität Wien, 1743; Archiv der Universität Wien). Zum Artikel



200 ProjektmitarbeiterInnen aus 26 Ländern

Mehr als 200 WissenschafterInnen, BibliothekarInnen und TechnikerInnen aus rund 30 Ländern werden sich im Rahmen des Forschungsnetzwerks in den kommenden vier Jahren an der Schnittstelle zwischen den "Digital Humanities" und der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte mit dem Thema Gelehrtenrepublik befassen. "Unter Gelehrtenrepublik verstehen wir eine frühneuzeitliche imaginierte Gemeinschaft – also eine Art proto-europäische, 'wissensbasierte' Zivilgesellschaft", erklärt Thomas Wallnig.

Die COST Action "Reassembling the Republic of Letters, 1500-1800" ist bisher eines der wenigen Forschungsnetzwerke dieser Art, die es im Bereich der Geisteswissenschaften gibt. "Die Aktion ist in erster Linie ein Diskussionsraum mit dem Ziel, auf einer möglichst breiten europäischen Ebene bibliothekarische und technische Standards zu diskutieren, Empfehlungen zu formulieren und bestenfalls festzulegen", betont der Historiker und ergänzt: "Ein solcher ist im naturwissenschaftlichen Bereich bereits weiter fortgeschritten, in der stark fragmentierten und heterogenen geisteswissenschaftlichen Forschungslandschaft allerdings viel schwieriger umsetzbar."

Noch nie gestellte Fragen

Wenn man Gelehrtenbriefe in Wien, London und Paris auf dieselbe Weise bearbeitet, dann sind sie auch gemeinsam nach bestimmten Fragestellungen durchsuchbar. "Und wir haben auf einmal einen riesigen Datenpool, auf den wir zurückgreifen können", erklärt Thomas Wallnig: "Damit können wir historiographische Fragen bearbeiten, deren Beantwortung bisher nicht möglich war."

Zum Beispiel die Frage, ob es eine zentraleuropäische Gelehrtenrepublik gab. Wie "emotional" die Gelehrten kommuniziert haben, wo bestimmte Themen zuerst diskutiert wurden und "wie" sie dann durch Europa wanderten. "Hochinteressant ist etwa die Frage, ob die Theorien von Isaac Newton wirklich Hand in Hand mit jenen von Baruch de Spinoza gingen oder ob die beiden völlig unabhängig voneinander wirkten bzw. von ganz unterschiedlichen Personen beachtet wurden", so Wallnig.


Vorläufer der COST Action war ein Projekt zur Korrespondenz der Brüder Pez, Geschichtsforscher im Kloster Melk im 18. Jh, das das Team um Thomas Wallnig im Rahmen seines START-Preises – der höchsten Auszeichnung des FWF für NachwuchswissenschafterInnen – durchgeführt hat. "Die Kontakte, die ich in diesem Rahmen knüpfen konnte, u.a. mit Howard Hotson, sind nun von größter Bedeutung", so Wallnig. (Foto: Stift Melk)



Bereits seit 2007 untersucht Wallnig im Rahmen eines START-Projekts die Korrespondenz zweier Benediktiner-Mönche: Bernhard und Hieronymus Pez. Ausgehend von dieser "Pez-Edition" wagt sich der junge Historiker nun an diese großen Fragen der europäischen Gelehrtengeschichte heran. "Die COST Action dockt quasi an das START-Projekt an", freut sich der Wissenschafter. Die Benediktinische Gelehrtenrepublik ist natürlich ein – wenn auch kleiner Teil – des großen Ganzen. "Es ist zwar eine ganz andere Dimension, aber die Fragen sind ähnlich."
 
Neuland für die Geisteswissenschaften


Damit die "vielen Köche" im EU-weiten Netzwerkprojekt nicht den "Brei verderben", ist die Qualitätskontrolle – neben der Koordination der riesigen Aktion – die wohl größte Herausforderung. "Wichtig ist, dass einzelne Inputs auch als solche erkennbar bleiben: Sprich, wenn eine Person ein Detail in der Datenbank ändert – weil sie z.B. festgestellt hat, dass die Datierung eines Briefes falsch ist – so muss erkennbar sein, wann und von wem die Änderung vorgenommen wurde", erklärt Wallnig. Wichtig sei das auch, weil sich die Geisteswissenschaften hier auf Neuland bewegen: "Artikel oder digitale Publikationen mit plötzlich 30 AutorInnen zu haben, ist für GeisteswissenschafterInnen noch ungewohnt. Bringt aber natürlich auch viele neue Möglichkeiten und Chancen mit sich."

Wien – Oxford – Stanford – Den Haag

Neue Sichtweisen auf das Forschungsfeld bringt auch die Achse "Wien – Oxford – Stanford – Den Haag": Die letztgenannten Forschungsinstitutionen sind weltweit federführend im Hinblick auf die Gelehrtenrepublik; zugleich wird auch auf der inhaltlichen Ebene die "Kluft" zwischen dem nordwesteuropäisch-atlantischen und dem – wenig erforschten – südostzentraleuropäischen Blick auf die Gelehrtenrepublik aufgearbeitet. "Im katholischen Raum gibt es weniger Editionen, weniger Forschung und weniger Sekundärliteratur zu Gelehrtenkorrespondenzen", so der Historiker. "Das Interesse an 'antireligiösen' und 'antiklerikalen' Theorien war hier – verglichen mit anderen Teilen der Welt – begrenzt."

"Gedachte" Geschichte neu denken

Deshalb ist es wenig überraschend, dass es eine Datenbank in Oxford ist ("Early Modern Letters Online"), die im Rahmen der Aktion schlussendlich zu einem europäischen Projekt erweitert werden soll. "Gemeinsam wollen wir nun die technischen, konzeptuellen und juristischen Rahmenbedingungen festlegen, um daraus einen gut gewarteten digitalen Open Access-Datenpool zu schaffen", so Wallnig. In Zukunft soll es HistorikerInnen auf der ganzen Welt möglich sein, damit die transnational und transkonfessionell gedachte Geschichte der Europäischen Gelehrtenrepublik zu erforschen. (ps)

Das Projekt "Reassembling the Republic of Letters, 1500-1800. A digital framework for multi-lateral collaboration on Europe`s intellectual history " – Laufzeit von Jänner 2014 bis April 2018 – wird im Rahmen des EU-Programms COST gefördert. Die Leitung liegt bei Prof. Howard Hotson von der University of Oxford. Die Co-Leitung liegt bei Dr. Thomas Wallnig, MAS vom Institut für Geschichte der Universität Wien.