Was wären Märchen ohne Wald?

Hänsel und Gretel verirren sich darin, Rotkäppchen begegnet hier dem bösen Wolf und Schneewittchen flüchtet sich vor ihrer bösen Stiefmutter in seine Tiefen: Der Wald spielt in knapp der Hälfte der insgesamt rund 200 Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm eine wichtige Rolle. Als Märchenschauplatz ist er ein fast unverzichtbarer Projektionsraum. Für den Germanisten und Dramaturgen Reinhard Palm, der im laufenden Semester ein Proseminar zu den Brüdern Grimm hält, verlieren sich die meist jugendlichen HeldenInnen aber nicht im tiefen, dunklen Wald, sondern finden dort vielmehr zu sich selbst.

"Knuper, knuper, kneischen! Wer knupert an meinem Häuschen?" ruft die böse Hexe den Kindern Hänsel und Gretel zu, die sich nach dreitägigem Irrlauf durch den Wald am Kuchenhaus der Hexe stärken. "Der Wind, der Wind, das himmlische Kind", antworten die Kinder. Doch die Hexe lässt sich nicht täuschen, sie fängt die beiden ein, macht Gretel zur Dienstmagd und sperrt den Hänsel in einen Käfig, um ihn zu mästen und später zu essen.

"In dieser scheinbar ausweglosen Situation – tief im Wald, in den Fängen einer Menschenfresserin – wächst Gretel über sich hinaus, tötet die Hexe und rettet somit sich und ihren Bruder", erklärt der Germanist Reinhard Palm. "Der Wald wird zum Überlebensraum, in dem sich die Kinder bewähren müssen. Als sie zu ihrem Vater zurückkehren, haben sie, besonders Gretel, einen Reifungsprozess durchlebt."

Je tiefer, desto verwunschener

Als Lebensraum und Bedrohung hat der Wald im Märchen eine durchaus ambivalente Rolle. Der Vater von Hänsel und Gretel ist Holzfäller, er lebt also vom Wald; die Ziegenmutter im Märchen "Der Wolf und die sieben jungen Geißlein" lässt ihre Kinder alleine im Haus zurück, um aus dem Wald Essen zu holen. "Je weiter sich die HauptakteurInnen von der Siedlung oder vom Haus entfernen, also je tiefer sie in den Wald eindringen, desto verwunschener wird er. Hier kommt es dann zu Begegnungen mit dem Übersinnlichen, wilden Tieren, Riesen oder Hexen", so Palm: "Dabei dürfte es sich um eine archetypische Angst handeln. Tief im Dickicht des Waldes ist der Mensch zwischen den Bäumen gefangen, es gibt keine Wege und keinen Horizont. Kein anderer Ort ist im Märchen so stark mit Furcht besetzt wie der Wald."

Der Wald als Kulisse

Zwischen den Urfassungen der von den Brüdern Grimm gesammelten Volksmärchen und späteren, editierten Versionen finden sich oft inhaltliche und sprachliche Änderungen. "Besonders Wilhelm Grimm machte es sich zur Aufgabe, die Märchen auszuformulieren", erklärt Reinhard Palm: "Er hat, metaphorisch ausgedrückt, aus Holzschnitten romantische Gemälde kreiert."

Ein Beispiel dafür ist das Märchen "Der Froschkönig". In der ursprünglichen Version verliert die Königstochter ihre goldene Kugel in einem Brunnen nahe des Waldrands. Wilhelm Grimm fügt dem Schauplatz einen Lindenbaum hinzu: "Das hatte einen ganz bestimmten Grund: In genau jener Szenerie – Waldrand, Brunnen plus Linde – wird Siegfried im Nibelungenlied von Hagen getötet", so der Grimm-Experte: "Den beiden Brüdern, die als die Gründerväter der Germanistik gelten, ging es um die Volkspoesie, das Natürliche, das Poetische – und das Nibelungenlied verkörpert das alles für sie."

Hier stellt der Wald ein identitätsstiftendes Element dar, er ist laut Palm "nicht nur das Massensymbol der Deutschen, wie Canetti sagt, sondern eine ideale Projektionsfläche, die seit der 'Germania' des Tacitus als 'Wiege des Volkes' (der Germanen) gilt".

"Altdeutsche Wälder"

Der Wald prägte nicht nur die Grimm'sche Märchensammlung, unter dem Titel "Altdeutsche Wälder" gaben die Brüder auch ihre erste literarische Zeitschrift heraus. Darin versammelten sie Texte aus unterschiedlichen literarischen Gattungen. "Der Begriff 'Wälder' bezeichnet hier sozusagen die verschiedenen Bäume, also literarische Texte, die zwanglos und zufällig nebeneinander stehen können und so eine Art offenes Ganzes ergeben", erklärt Palm. "Der Wiener Germanist Helmut Birkhan sagte trefflich, dass aus dem Holz der 'Altdeutschen Wälder' die Stabkirche der Germanistik geschnitzt ist."

Die Brüder haben also grundsätzlich positive Assoziationen mit dem Wald. "Gerade die Gefahr und die Überwindung der Todesangst machten den Reifungsprozess von Hänsel und Gretel aus. Diese subjektive Angst durch Selbstüberwindung, Konfrontationsvermögen und List positiv nutzbar zu machen, das ist für mich das sinnstiftende Element vieler Märchen."

Der Wald in der Moderne

Ein moderner Film, der ganz in der Tradition der Brüder Grimm steht, ist laut Reinhard Palm der amerikanischen Spielfilm "The Blair Witch Project" aus dem Jahr 1998: "Er enthält zahlreiche Grimm'sche Komponenten, wie etwa den Menschenfresser-Mythos oder die Bedrohung, die in den Tiefen des Waldes lauert. "Im Gegensatz zu den Märchen geht der Film zwar schlecht aus, aber das scheint ein Zeitgeist-Phänomen zu sein. Das Scheitern oder sogar der Tod sind nur Nebeneffekte des Abenteuers."

Ähnlich illusionslos – aber mit bewundernswerter Texttreue – hat die österreichische Künstlerin Michaela Mandel bisher zwei Märchen der Brüder Grimm als Animationsfilme gestaltet: "Die wunderliche Gasterei", eine witzig-bedrohliche Geschichte zwischen Blutwurst und Leberwurst, und "Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben", wo ein Kinderspiel zum blutigen Ernst wird. Letzteres hat Wilhelm Grimm, obwohl es ihm von seiner Mutter erzählt wurde, wegen seines Gruselcharakters aus späteren Märchensammlungen ausgeschlossen. (td)


Dr. Reinhard Palm ist am Institut für Germanistik tätig und unterrichtet am Konservatorium Wien Privatuniversität. Im Sommersemester 2011 hält er ein Proseminar zum Thema "Neuere deutsche Literatur: Die Brüder Grimm – 'Gründungsväter' der Germanistik, Sprachwissenschaftler und Märchensammler".

Literaturtipps von Reinhard Palm:
Elisabeth Meschik: "Der Wald als Projektionsfläche im deutschen Volksmärchen", Diplomarbeit Wien 2006
Hisako Ono: "Waldsymbolik bei den Brüdern Grimm", in: Fabula 48 (2007), Heft 1/2, S. 73-84