Vom Ursprung der Muskulatur

Wer Muskeln hat, kann fliehen, Beute machen, große Distanzen überwinden und damit neue Lebensräume erobern. Ulrich Technau und Team zeigen aktuell im Journal "Nature", dass manche zentrale Bestandteile von Muskeln höherer Tiere viel älter sind als bisher angenommen.

Während Struktur und Funktion von Muskulatur insbesondere bei Wirbeltieren sehr gut untersucht sind, ist der evolutionäre Ursprung von glatter und gestreifter Muskulatur bislang weitgehend im Dunkeln geblieben. Nun konnten Patrick Steinmetz, Johanna Kraus und Ulrich Technau vom Department für Molekulare Evolution und Entwicklung – in Zusammenarbeit mit Teams aus Deutschland, Frankreich und Australien – die Evolution von Muskelbestandteilen in ursprünglichen Tieren wie Seeanemonen, Quallen und Schwämmen nachzeichnen.


Die Qualle Clytia hemisphaerica beim Schwimmen. Die Kontraktion von gestreifter Ringmuskulatur führt zum Wasserrückstoß und zur Vorwärtsbewegung. (Foto: Patrick Steinmetz)



Genduplikation

Durch stammesgeschichtliche Vergleiche wiesen sie nach, dass eines der entscheidenden Strukturproteine der gestreiften Muskulatur bei Wirbeltieren, ein spezielles Myosin-Motorprotein, durch eine Genduplikation entstanden ist. "Da dieses spezielle Myosin bisher ausschließlich in Muskelzellen gefunden wurde, hätten wir erwartet, dass sein Ursprung mit der Entstehung von Muskeln zusammenfällt. Wir waren überrascht, dass das 'Muskel-Myosin' seinen Ursprung vermutlich bereits in Einzellern hatte, lange bevor die ersten Tiere gelebt haben", erklärt Ulrich Technau.

Forschungen an Schwämmen…

"In Schwämmen, die allesamt noch keine Muskeln besitzen, scheint das 'Muskel-Myosin' eine Funktion bei der Regulation des Wasserstroms zu besitzen", präzisiert Gert Wörheide von der Ludwig-Maximilians-Universität München, dessen Arbeitsgruppe zusammen mit Michael Nickel (Universität Jena) und Bernard Degnan (Universität Queensland) die Untersuchung von Muskelproteinen an Schwämmen durchgeführt hat.

… und Quallen

Eine besondere Stellung für das Verständnis der Evolution der Muskulatur nehmen die zu den Nesseltieren gehörenden Quallen ein, eine Tiergruppe, die sich bereits vor etwa 600 Millionen Jahren abgespaltet hat und die über gestreifte Muskeln verfügt. Da sie in ihrer Struktur der gestreiften Muskulatur von Wirbeltieren und Insekten ähnelten, ging man bislang davon aus, dass sie einen gemeinsamen Ursprung haben müssten. Tatsächlich exprimieren diese gestreiften Muskeln zwar auch jenes uralte "Muskel-Myosin", es fehlen ihnen jedoch einige essenzielle Komponenten, die charakteristisch für den Aufbau und Funktion von gestreifter Muskulatur in höheren Tieren sind.


Nahaufnahme der gestreiften (rot, horizontal) und glatten (rot, vertikal) Muskelzellen der Qualle Clytia hemisphaerica. Die Zellkerne sind blau gefärbt. (Foto: Johanna Kraus)



Dies lässt den Schluss zu, dass trotz der großen äußeren Ähnlichkeiten die gestreiften Muskeln von Quallen und höheren Tieren unabhängig voneinander entstanden sind. Die Studie entwirft ein neues Bild davon, wie scheinbar komplexe Strukturen wie gestreifte Muskulatur in der Evolution auf der Basis  einer Reihe sehr alter Komponenten mehrfach unabhängig entstehen können.

Das Paper "Independent evolution of striated muscles in cnidarians and bilaterians" (AutorInnen: Patrick R.H. Steinmetz, Johanna E.M. Kraus, Claire Larroux, Jörg U. Hammel, Annette Amon-Hassenzahl, Evelyn Houliston, Gert Wörheide, Michael Nickel, Bernard M. Degnan & Ulrich Technau) erschien im Journal "Nature".