Vom (un)aufmerksamen Blick in die Welt
| 29. März 2012Mit "Eye-Tracking" dem Blickverhalten auf der Spur: Ein Team um den Psychologen Ulrich Ansorge erforscht die "visuelle Aufmerksamkeit". Eine wichtige Rolle spielt dabei der – mathematisch berechenbare – "optische Fluss", der die vom Auge wahrnehmbaren Flächenbewegungen beschreibt.
"Wir blicken etwas an und ignorieren den Rest: Die visuelle Aufmerksamkeit des Menschen ist selektiv, also auswählend. Selbst wenn wir etwas direkt anschauen, entnehmen wir oft nur bestimmte, manchmal auch keine Information", beschreibt der Projektleiter Ulrich Ansorge eine der zentralen psychischen Leistungen des Menschen. Ziel des aktuellen WWTF-Projekts ist es, durch experimentelle Methoden zu einem umfassenden Modell der visuellen Aufmerksamkeit zu gelangen.
Die dynamische Umwelt …
Um Handlungen steuern und kognitive Verarbeitungsprozesse in Gang setzen zu können, befassen wir uns nur mit ausgewählter visueller Information: "Jemand versucht, sich eine Telefonnummer einzuprägen, und lässt dabei die Adresse, die gleich daneben angeführt ist, völlig außer Acht", verdeutlicht das der Psychologe anhand eines alltäglichen Beispiels.
Zu sehen ist eine statische Fotografie einer dynamischen Szene, mit großen Kreisen, die Fixationsorte des Blickes darstellen, und roten Linien, die den Blicksprüngen entsprechen. In Bildern, wie dem hier dargestellten, schauen Menschen nur bestimmte Orte an, z.B. solche, an denen ein starker lokaler Merkmalskontrast vorliegt – im oberen Bild ist das beispielsweise bei den beiden Signallampen. (Foto: Christian Valuch) |
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Komplexer wird die Situation, wenn durch Eigen- und Objektbewegungen visuelle Dynamik entsteht, die das Blickverhalten beeinflusst, z.B. im Straßenverkehr, der von beweglichen Hindernissen (z.B. vorbeifahrende Fahrzeuge) und dynamischen Signalen (z.B. Blinkern oder Fahrzeugscheinwerfern) geprägt ist. In dieser Umwelt wird für die visuelle Aufmerksamkeit der "Optische Fluss" relevant.
… im Auge des Betrachters
Der optische Fluss kann als Muster der echten und vermeintlichen Bewegungen von visuellen Objekten und Flächen berechnet werden. Optischer Fluss entsteht z.B. durch die Eigenbewegungen des Menschen, wenn sich die BetrachterInnen im Raum bewegen: Nähern wir uns beispielsweise einem Gebäude, so ändert sich seine Größe und seine Position. Diese Veränderungen der Flächen, oder genauer der Raumwinkel, – samt der Dauer des Vorgangs – lassen sich berechnen: Im Rahmen des Projekts beschäftigt sich der Mathematiker Otmar Scherzer, Leiter der Forschungsplattform Computational Science Center, mit der Berechnung dieser dynamischen Gegebenheiten, die das Blickverhalten steuern.
Lesen Sie mehr zum Thema im uni:view-Dossier "Fokus Kognition" |
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Die Bestimmung des optischen Flusses ist in der Regel an Vorwissen gebunden, z.B. darüber, wie groß ein Haus erscheint. Eine der großen Herausforderungen des Projektes besteht darin, den optischen Fluss auch weitestgehend ohne diese Information zu berechnen. Diese Berechnungen sind notwendig, um die zentralen Vorhersagen und Hypothesen über den Zusammenhang von visueller Bewegung und Aufmerksamkeit zu prüfen. "Eine unserer Hypothesen lautet, dass der Blick beim Betrachten von Video und Film in erster Linie auf Positionen gerichtet ist, die wenig optischen Fluss enthalten", so Ansorge. Der optische Fluss wird als Veränderung von Raumwinkeln über die Zeit und über Positionen berechnet. Daher gilt: "Je höher der optische Fluss und je länger er andauert, desto langweiliger wird er für den Blick. Interessant wird dann der Rest, in dem die Neuheit steckt."
Schnitt: Videos als Grundlage des Experiments
Überprüft wird diese Annahme u.a. im Rahmen von Verhaltensexperimenten. Die KognitionspsychologInnen beschäftigen sich dabei nicht nur mit der Frage, worauf BetrachterInnen ihren Blick richten, sondern auch, wann dieser diagnostisch für die Entnahme von Information ist. Denn in vielen Fällen entnimmt der Mensch wenig bis gar keine Information von betrachteten Stellen: etwa wenn VerkehrsteilnehmerInnen in Gedanken sind und den Wechsel eines Ampelsignals nicht bemerken, obwohl sie die Ampel anschauen. Um solche Fragen zu untersuchen, wird den TeilnehmerInnen "Reizmaterial" – editierte Videoaufnahmen – auf einem Computermonitor gezeigt, die der ausgebildete Kamerassistent Ansorge mit seinem Team erstellt. Mittels Eye-Tracker – einem Gerät, das Blickrichtungen und Pupillenbewegungen aufzeichnet – kommt der Psychologe dann zu umfangreichen Daten über das Blickverhalten.
Im Rahmen der Verhaltensexperimente zeigen die WissenschafterInnen den VersuchsteilnehmerInnen nacheinander Bilder. Indem sie das Blickverhalten bei vielen verschiedenen Bildern aufzeichnen und die Bildinhalte mathematisch beschreiben, können Modelle der Blicksteuerung entwickelt werden, in denen Bildmerkmale Vorhersagen über die Blickrichtung erlauben. (Foto: Christian Valuch) |
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In der Theorie stellen diese Videos zwei ganz unterschiedliche Aufgaben an die BetrachterInnen: Zum einen geht es darum, aus wiederholter visueller Information das Neue herauszupicken. Das passiert innerhalb der einzelnen filmischen Kameraeinstellungen ("within takes"), den Phasen zwischen zwei Schnitten. Die entgegengesetzte Aufgabe haben die BetrachterInnen zwischen den Einstellungen ("between takes"), wenn nach einem harten Schnitt entschieden werden muss, ob man sich bereits in einer neuen Szene befindet: "Hier wird nun die alte Information relevant, die wir aus zuvor betrachteten Stellen entnehmen. Sagen wir, ich habe im Film 'Herr der Ringe' den Turm von Mordor gesehen. Dann kommt ein Schnitt, ich will mich orientieren und suche diesen Turm – eine Landmarke – um zu entscheiden, ob ich mich noch immer in Mordor befinde oder nicht."
Ulrich Ansorge ist der Leiter des vierjährigen WWTF-Forschungsprojekts. |
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"Das Besondere an den Studien ist, dass im Gegensatz zu älteren Modellen der visuellen Aufmerksamkeit, der optische Fluss eine herausragende Rolle einnimmt und dass wir auch die besonderen Merkmale editierter Filme und Videos für die Steuerung der Aufmerksamkeit berücksichtigen. Bei der Allgegenwart von Video und Film z.B. in mobiler Kommunikation ist letzteres natürlich sehr wichtig. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse", freut sich der Projektleiter. (dh)
Das WWTF-Projekt "Modeling Visual Attention as a Key Factor in Visual Recognition and Quality of Experience" läuft von 1. März 2012 bis 1. März 2016. Univ.-Prof. Dr. Ulrich Ansorge, Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden, leitet das Projekt. Projektpartner sind Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Otmar Scherzer, Leiter der Forschungsplattform Computational Science Center, und MMag. Dr. Shelley Buchinger von der Forschungsgruppe Entertainment Computing.