Volkszählung am Meeresgrund

Census of Marine Life - die wohl größte internationale Initiative zur Erfassung der Biodiversität in unseren Ozeanen - blickt auf zehn Jahre intensiver Arbeit zurück. Insgesamt 2.700 WissenschafterInnen aus 80 Ländern waren an der einzigartigen Gemeinschaftsaktion beteiligt - darunter die Meeresbiologinnen Monika Bright und Sabine Gollner. Sie haben die Tiere aus den exotischen Lebensräumen der Tiefsee "gezählt" - ein Teil ihrer überraschenden Ergebnisse wurde vor kurzem im Journal "PlosOne - ChEss Special Collection 2010" publiziert.

"Unsere Volkszählung an den Hydrothermalquellen in Vulkankratern - sogenannten Hot Vents - sowie an Erdöl- und Erdgaslagerstätten der Tiefsee - den Cold Seeps - ist abgeschlossen", freut sich Sabine Gollner, bis vor kurzem Post Doc in der Forschungsgruppe von Monika Bright am Department für Meeresbiologie. Die Nachwuchswissenschafterin hat buchstäblich jedes einzelne Lebewesen aus den Wasserproben gezählt, die vom Forschungs-U-Boot "Alvin" aus den Tiefen des Ostpazifischen Rückens und des Golfs von Mexiko geborgen wurden: "Dabei konnte ich in den letzten vier Jahren über 70.000 Tiere für meine Dissertation erfassen."

Überraschende Ergebnisse publiziert

Insgesamt hat das Team rund um Monika Bright über 150.000 Tierchen gezählt - Grundlage für drei weitere abgeschlossene und zwei noch laufende Diplomarbeiten. Und nicht nur das: "Die Tiere wurden auch identifiziert, um Fragen nach ihrer Diversität, Biogeographie, Ökologie und Herkunft zu beantworten", erklärt die stellvertretende Leiterin des Departments für Meeresbiologie.

Ein Teil der bisherigen Forschungsergebnisse ist seit kurzem in drei Artikeln der Spezialausgabe "The ChEss Collection" des Journals "PloS One" nachzulesen. "ChEss ist eines der Projekte im Rahmen des Census of Marine Life, an denen wir mitgewirkt haben, und beschäftigte sich speziell mit den auf Chemosynthese basierenden Lebensräumen in der Tiefsee", so Bright.

Mehr Stress - weniger Arten
 

Überraschend sind die in der "ChEss Collection" publizierten Ergebnisse in vielerlei Hinsicht: "Zum einen hat sich herausgestellt, dass die Meiofauna - jener Teil der Tiergemeinschaft, der kleiner als ein Millimeter ist - im Gegensatz zur gut erforschten großen Makrofauna nicht nur an den hydrothermalen Quellen vorkommt, sondern auch am kalten Basaltgestein im Vulkankrater", sagt Bright: "Das ist unerwartet, da wir davon ausgegangen sind, dass sich die Meiofauna wie die Makrofauna verhält."

Zum anderen zeigen die Forscherinnen, dass sich an den Hot Vents nur wenige Arten etablieren können: "Hier gilt die Devise: Je heißer und giftiger der Lebensraum, umso weniger Arten kommen vor", sagt Sabine Gollner. Auch dieses Ergebnis widerspricht ökologischen Theorien, die vorhersagen, dass die Diversität entlang eines Stressgradienten im mittleren Stresslevel am höchsten, in hohen und niedrigen Stressbereichen am niedrigsten sei. "Das trifft zwar auf die  Makrofauna zu - die Meiofauna hingegen zeigt die niedrigste Diversität bei höchstem Stress und dann abfallend höchste Diversität bei niedrigstem Stress", erläutert die .

Fadenwürmer von nah und fern


Eine Frage, die die Forscherinnen besonders beschäftigt, ist die nach dem Ursprung der Fadenwürmer (Nematoda), einer der wichtigsten Meiofauna-Arten. Nematoden kommen sowohl an Hot Vents als auch an Cold Seeps vor, haben diese Lebensräume jedoch auf unterschiedliche Weise besiedelt: "Wir finden die nächsten verwandten Arten der Nematoden der heißen Quellen in den umgebenden Schlammen. Sie mussten also keine weiten Strecken zurücklegen - wenngleich nur extrem temperaturtolerante Arten einwandern konnten", so die Meeresbiologin.

Im Gegensatz dazu liegt der Ursprung jener Fadenwürmer, die Cold Seeps bewohnen, im weit entfernten Flachwasser. "Somit zeigen die beiden Tiefseehabitate, die auf Chemosynthese basieren, wenige Gemeinsamkeiten", betont Bright: "Wer wo lebt, wissen wir jetzt an zwei ausgewählten Beispielen. In Zukunft werden wir uns damit beschäftigen, warum das so ist."

Erfolgreiche Ruderfußkrebse


Der Census of Marine Life hat nicht nur dazu beigetragen, die Kenntnisse über die Artenvielfalt in unseren Ozeanen deutlich zu verbessern: "Es wurden auch spektakuläre höhere Taxa bzw. ganze Tiergruppen entdeckt und deren Verbreitung erforscht", freuen sich Bright und Gollner. Dazu zählt z.B. die artenreiche Familie der Dirivultidae, die zu den Ruderfußkrebsen gehören, ausschließlich an heißen Tiefseequellen leben und mit ihren zwei Millimetern Körperlänge mit freiem Auge fast nicht zu erkennen sind.

Besonders gut scheint es den Dirivultidae am Fuße von "Black Smokers" - Sulfidschlote, die extrem heiße Thermalflüssigkeit aus dem Erdinneren speien - zu gefallen: Sie kommen hier so zahlreich vor, dass sie alle anderen Tiere in den Schatten stellen - sogar den Weltmeister der Hitzetoleranz, den Pompeiwurm. "Die Dirivultidae sind weder in Tiefseeschlammen noch an kalten Quellen zu finden. Ihre nächsten Verwandten sind Ruderfußkrebse, die hauptsächlich auf Tieren im Seichtwasser leben", erklärt Bright: "Woher sie also ursprünglich stammen, ist ein Rätsel, das es noch zu lösen gilt." (br)


Die drei Publikationen "Diversity of Meiofauna from the 9°50’ N East Pacific Rise across a Gradient of Hydrothermal Fluid Emissions" (AutorInnen: Sabine Gollner, Barbara Riemer, Pedro Martínez Arbizu, Nadine Le Bris, Monika Bright), "Advances in taxonomy, ecology, and biogeography of Dirivultidae (Copepoda) associated with chemosynthetic environments in the deep sea" (AutorInnen: Sabine Gollner, Viatcheslav N. Ivanenko, Pedro Martínez Arbizu, Monika Bright) sowie "Ecology and Biogeography of Free-Living Nematodes Associated with Chemosynthetic Environments in the Deep Sea: A Review"
 (Autorinnen: Ann Vanreusel, Annelies De Groote, Sabine Gollner, Monika Bright) erschienen im Journal "PLoS ONE: Biogeography of Deep-Water Chemosynthetic Ecosystems - The ChEss Collection 2010".

Die Studien in Vulkankratern wurden im Rahmen der FWF-Projekte "Meiobenthos Lebensgemeinschaften an Hydrothermalquellen" (2003 bis 2007) und "Meiovent Sukzession" (2007 bis 2012) unter der Leitung von Ao. Univ.-Prof. Dr. Monika Bright vom Department für Meeresbiologie finanziert. Die Studien an Erdöl- und Erdgaslagerstätten (2006 bis 2008) wurden vom Mineral Management Service, USA finanziert und von Prof. Dr. Charles R. Fisher von der Pennsylvania State University geleitet. Mag. Dr. Sabine Gollner, ehemalige Dissertantin und Post Doc am Department für Meeresbiologie, wechselte vor kurzem im Rahmen eines Post Doc-Stipendiums an das DZMB Forschungsinstitut Senckenberg (Wilhelmshaven, D).