Vorläufer von YouTube & Co

Veröffentlichen YouTuberInnen wie Dagi Bee oder LeFloid Videos, schauen sich diese Millionen von Menschen an. Doch welche Rolle spielten Videos vor der Digitalisierung? In ihrem Elise Richter-Projekt geht Zeithistorikerin Renée Winter den Videos als Selbsttechnologie auf den Grund.

Heutzutage sind Videokassetten ein Relikt vergangener Zeiten: 2016 wurde die Produktion der letzten auf dem Markt erhältlichen VHS-Videorekorder eingestellt. Doch als Mitte der 1950er Jahre der erste einsatzfähige Video Tape Recorder (VTR) erschien und Ende der 1960er Jahre Philips und Grundig erste Rekorder mit Videokamera auf den Markt brachten, war das eine Sensation: Erstmals konnten eigene Videos kostengünstig aufgenommen werden.

"Die zunehmende Verbreitung des Videos veränderte die sozialen Praktiken im Zusammenhang mit audiovisuellen Medien und wirkt bis heute nach. Viele Dinge, die heutzutage mit den sogenannten Neuen Medien in Verbindung gebracht werden, sind eigentlich schon viel früher entstanden", erläutert Zeithistorikerin Renée Winter, die sich in ihrem aktuellen FWF-Projekt der Videogeschichte von den späten 1950er Jahren bis in die 2010er Jahre widmet. "Durch die Erfindung der kleinen und handlichen Camcorder fingen Leute an, die Kamera umzudrehen und sich selbst zu filmen. Selfie-Videos sind keine Erfindung der Sozialen Medien", nennt die Forscherin der Universität Wien ein Beispiel.

Renée Winter ist seit April 2018 im Rahmen des Elise Richter-Programms (FWF) Senior Postdoc am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Fernsehen, Film und Video, die Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Gender sowie Migration und Postkolonialismus. (© Universität Wien)

"Medien strukturieren unsere Wahrnehmung der Welt"

Im Mittelpunkt des kürzlich gestarteten Projekts stehen Videos als Medium der Veränderung und Selbstoptimierung. "Medien strukturieren unsere Wahrnehmung der Welt – und sagen daher auch immer viel über Machtverhältnisse aus", so Winter, die überzeugt ist, dass mit der Verbreitung und Anwendung der Videoaufnahmen auch neue Formen von Selbsttechnologien entstanden sind. Um das zu untersuchen, schaut sich die Forscherin drei Bereiche an: Was veränderten Videos bei der Selbst-Konfrontation in der Psychotherapie, in Ausbildung, Training sowie im Coaching-Bereich, was bei der Selbst-Ermächtigung und Demokratisierung etwa im linken Videoaktivismus und was bei den audiovisuellen Erzählungen des Selbst im privaten und autobiografischen Gebrauch?

Bereits in den 1960er Jahren wurden Videos in der Psychotherapie eingesetzt, auch in der Wirtschaft dienten sie als Medium der Selbstkonfrontation und -beobachtung, beispielsweise in Rhetorik- und Präsentationstechnikseminaren. (© Screenshot Video/Interpersonal Process Recall: The Recall Process - Individual Recall (#IPR D-1): Norman Kagan, Michigan State University 1973; DVD-Series: Alexandria; VA: Microtraining Associates, 1995)

Magnetband: Kein Datenträger für die Ewigkeit

Theoretisch gibt es für die Zeithistorikerin unzähliges Material, praktisch begegnen ihr aber immer wieder Hindernisse. "Im Laufe der Zeit entwickelten die Firmen immer mehr Videoformate. Möchte man diese digitalisieren, bräuchte man mindestens 15 verschiedene Geräte. Daher haben nur die wenigsten Archive umfassende Videosammlungen", berichtet Winter aus der Forschungspraxis. Ein Archiv mit einer großen Sammlung ist die Österreichische Mediathek, in der die Zeithistorikerin selbst einige Zeit gearbeitet hat. Daneben hofft sie, auch in den Niederlanden, den USA, Kanada und Italien auf brauchbares Archivmaterial zu stoßen.

Vom schnarchenden Ehemann …

Videomaterial aus Wien erhält die Wissenschafterin zum einen durch eine ehemalige Coachingfirma, zum anderen durch ihren ehemaligen Arbeitspatz, die Mediathek, wo 24.000 Videokassetten archiviert sind. Darunter auch etwa 2.000 Home Videos. "Manche sind nur einige Minuten, andere dagegen acht Stunden lang", berichtet Winter, die sich bereits in einem vorherigen WWTF-Projekt intensiv mit Home Videos beschäftigt hat.

Während manche privaten FilmerInnen nur fragmentarisch Dinge aufnahmen, haben andere ihr halbes Leben filmisch festgehalten: "Es gibt z.B. den Bestand einer Familie, der Videos über einen Zeitraum von 20 Jahren enthält. Hier sieht man spannende Veränderungen: Während klassischerweise zuerst der Vater die Familie bei Feierlichkeiten filmt, nimmt irgendwann auch die Mutter die Kamera in die Hand und filmt z.B. ihren Mann beim Schnarchen, den pubertierenden Sohn bei seinem Versprechen, mehr für die Schule zu tun, und später auch sich selbst bei einer Reise mit der besten Freundin nach Rom", erzählt die Forscherin.

"Es gibt zwar kaum valide Zahlen, aber ich würde sagen, dass durch die Entwicklung des Videos mehr Frauen und Kinder bzw. Jugendliche gefilmt haben als noch mit Schmalfilm oder Super-8-Film. Das liegt zum einen an der technologischen Veränderung – Video war preiswerter –, zum anderen aber auch an einer Veränderung der Geschlechterverhältnisse", so Renée Winter. (© Screenshot Video, Renée Winter)

… bis hin zu politischen Demonstrationen

Auch 900 Videos aus dem aktivistischen Bereich besitzt die Österreichische Mediathek. Ein großer Teil stammt von Heinz Granzer, einem 2014 verstorbenen Video- und Gewerkschaftsaktivisten. Granzer war 1978 Mitbegründer der Gruppe Alternativvideo, die Anfang der 1980er Jahre in das alternative Kulturzentrum WUK einzog. Er hinterließ u.a. tausende Videokassetten, die Demonstrationen, Parteitage, Polizeigewalt bis hin zu kulturellen Veranstaltungen dokumentieren. "Es ist ein riesiges Glück, dass sein Nachlass der Mediathek übergeben wurde", freut sich Winter, die für ihr Projekt mit der heute noch bestehenden Gruppe Alternativvideo zusätzlich Interviews führen wird.

Der Videobestand von Heinz Granzer und der Gruppe Alternativvideo in der Österreichischen Mediathek gibt einen Einblick in die Aktivitäten, Strukturen und Geschichten eines umfangreichen Teils sozialer Bewegungen in Wien von den 1980er bis zu den 2010er Jahren. (© Screenshot Website Österreichische Mediathek)

Broadcast Yourself!

Während Videos früher vielfach dazu dienten, etwas zu hinterlassen – sei es den Nachkommen oder einer größeren Öffentlichkeit –, hat sich ihr Zweck heutzutage durch Smartphones und Digitale Medien verändert, meint Renée Winter: "Sich selbst oder andere zu filmen ist viel mehr in der Gegenwart verhaftet und nicht mehr primär auf Speicherung ausgelegt. Heutzutage ist es fast schon eine Notwendigkeit, dass jede und jeder gute Videos selbst produzieren kann – etwa für Bewerbungen", so die Forscherin. Die Grenze zwischen öffentlich und privat ist also nicht nur bei YouTuberInnen wie Dagi Bee oder LeFloid inzwischen fließend, sondern wird auch in unser aller Leben immer weiter aufgeweicht. (mw)

Das Projekt "Video as Technology of the Self: Self-confrontation, Self-empowerment and Auto/biographical practices" von Mag. Dr. Renée Winter vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien läuft von 1. April 2018 bis 31. März 2022 und wird vom FWF im Rahmen des Elise Richter-Programms gefördert.