Trauma durch Missbrauch
| 27. Oktober 2011Die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft nimmt sich seit April 2010 Fällen von Missbrauch und Gewalt in Kirche und Gesellschaft in Österreich im Interesse der Betroffenen an. Die Arbeit der Kommission wird seit kurzem durch das ÖNB-Projekt "Psychotraumatologische Fragestellungen zu sexuellem Missbrauch und Gewalt in der katholischen Kirche" unter der wissenschaftlichen Leitung von Brigitte Lueger-Schuster begleitet. Dabei stehen Fragen rund um die oft bis heute nachwirkenden Traumata im Fokus.
"Das Ziel des Forschungsprojekts ist es, die psychischen Auswirkungen der Opfer durch Missbrauch zu dokumentieren", erklärt Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie: "Durch unser zusammengetragenes Wissen wollen wir einen Beitrag zur Gewaltprävention leisten sowie spezielle Betreuungsangebote entwickeln, sofern diese noch nicht vorhanden sind."
Initiative gegen Machtmissbrauch
Das Jahr 2010 war europaweit geprägt durch eine Welle an Enthüllungen sexueller Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche. Zunächst in Irland und dann in Deutschland, Italien und Österreich meldeten sich hunderte Menschen, die Opfer von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute geworden sind.
Österreich reagierte darauf im April 2010 mit der Gründung der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft, die von Waltraud Klasnic geleitet wird. Bis zum Jahresende 2010 meldeten sich insgesamt 729 Personen. Mit Stichtag 31. Mai 2011 lagen bei der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft insgesamt 1.091 Meldungen auf, davon waren 1.016 von Gewalt/Missbrauch in der katholischen Kirche Österreichs betroffen. Die Klasnic-Kommission konnte bis Anfang Oktober 2011 407 Fälle abschließen. Zu den wichtigsten Aufgaben der Opferschutzanwaltschaft gehören Gespräche mit den Opfern, rechtliche und psychologische Beratung sowie Vorschläge für individuelle Maßnahmen, wie Mediation, Therapie und finanzielle Hilfe, anzubieten.
Seit Juni 2011 sind die "Ombudsstellen gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch im kirchlichen Bereich" – jedes Bundesland verfügt über eine solche Stelle – Erstanlaufstationen für Missbrauchsopfer, die Entscheidungen über finanzielle Hilfestellungen werden weiterhin von der Unabhängigen Opferschutzkommission getroffen. Von den insgesamt 1.091 Betroffenen, die sich bis zum 31. Mai 2011 gemeldet haben, handelt es sich in 760 Fällen um Männer (74,8 Prozent), in 256 um Frauen (25,2 Prozent).
Jahrzehnte später
Eine der zentralen Fragestellungen des Forschungsprojekts von Lueger-Schuster, das in Kooperation mit der Opferschutzanwaltschaft durchgeführt wird, dreht sich um die heutige psychische Gesundheit der Missbrauchsopfer. "Die meisten Betroffenen sind ja in ihrer Kindheit und Jugend missbraucht worden", so die Psychologin: "Wie sieht nun das Leid dieser Menschen heute aus, also oft Jahrzehnte später, bzw. welcher Belastung sind sie nun ausgesetzt: Leiden sie etwa unter Angst oder Depressionen?" Erst wenn ein differenziertes Bild der psychischen Leiden vorliegt, ist es den PsychologInnen möglich, spezifische Präventionsmaßnahmen und Betreuungsangebote zu entwickeln.
Sensible Forschung
Zunächst werden die Opfer – nur Betroffene, deren Fall von der Opferschutzanwaltschaft bereits abgeschlossen ist – von der Kommission über das Forschungsprojekt sowie die Möglichkeit, daran teilzunehmen, informiert. Jene, die sich bereit erklären, mitzumachen, erhalten daraufhin ein Formblatt sowie in der Folge einen Fragebogen. "Uns ist es besonders wichtig, dass die Opfer anonym bleiben. Das Leid erfordert einen sensiblen Umgang mit den Betroffenen", betont Lueger-Schuster: "Wir versuchen im Zuge der Erhebung auch, auf besondere Wünsche der Betroffenen einzugehen und die Fragen so zu formulieren, dass sie nicht noch mehr Schmerz verursachen." Die Psychologin könne dabei nicht ausschließen, dass die Erinnerung die psychischen Leiden verstärke, gleichzeitig sei in manchen Fällen oft gerade dadurch Linderung möglich.
Zunächst geht es den PsychologInnen um Lueger-Schuster – das Team besteht aus zwei ProjektmitarbeiterInnen und zwei DiplomandInnen – darum, den jeweiligen Missbrauchsfall auf Basis der vorhandenen Dokumentation, in die nur mit Einverständnis der Betroffenen Einsicht genommen wird, in seinen Facetten zu klären: Was genau ist wann passiert? Wie oft ist es zu Übergriffen gekommen? In welchem Kontext fand der Missbrauch statt, im schulischen Umfeld, im Kloster oder bei Freizeitaktivitäten, wie etwa Jungscharwoche? Der weitere Schwerpunkt der Untersuchung wird dann auf die Gegenwart und die psychischen Auswirkungen des Missbrauchs heute gelegt. Wie geht es den Betroffenen damit, dass sie sich nun mitteilen können und auch Gehör finden? Auch dieser Frage wird im Rahmen der Forschung nachgegangen.
Da das Projekt erst im August 2011 startete, lässt sich noch nicht sagen, wie viele der Betroffenen sich entscheiden mitzumachen. Im Falle eines ähnlichen Projekts in Irland nahmen rund 25 Prozent der Missbrauchsopfer daran teil. Die erste Projektphase ist der Befragung der Opfer mittels Fragebogen gewidmet, die weiteren Schritte, wie sich etwa institutionelle Machtausübung verhindern bzw. eindämmen lässt und welche spezifischen Therapiemethoden entwickelt werden können, ergeben sich dann im Zuge der Auswertung der Antworten der Betroffenen. (td)
Das Projekt "Psychotraumatologische Fragestellungen zu sexuellem Missbrauch und Gewalt in der katholischen Kirche" – unter der Leitung von Ass.-Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster vom Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie – startete im August 2011. Das Projekt läuft 14 Monate und wird vom Jubiläumsfonds der ÖNB finanziert sowie in Kooperation mit der Opferschutzanwaltschaft durchgeführt.