Sprache und Gewalt

Vom Whistleblowing bis zum Happy Slapping – im Rahmen seines aktuellen FWF-Projekts beschäftigt sich Gerald Posselt vom Institut für Philosophie der Universität Wien mit dem Verhältnis von Sprache und Gewalt und beleuchtet aktuelle Phänomene aus einer sprachphilosophischen Perspektive.

"Im 20. Jahrhundert haben sich viele PhilosophInnen mit dem Phänomen Sprache auseinandergesetzt. Sprache als eine eigenständige Form der Gewalt wurde jedoch oftmals außer Acht gelassen", so die Einschätzung des Philosophen Gerald Posselt von der Universität Wien. Mit dem Projekt "Sprache und Gewalt" möchten er und sein Mitarbeiter Sergej Seitz diesem Forschungsdesiderat nachkommen und unterschiedliche Dimensionen sprachlicher Gewalt diskutieren. "Es geht einerseits darum, Begrifflichkeiten zu entwickeln, andererseits konkrete Formen des Sprechens zu analysieren", so der Forscher.

Eine eigenständige Gewaltkategorie

Auf den ersten Blick besteht ein Gegensatz zwischen Sprache und Gewalt: Gewalt beginnt dort, wo das Sprechen endet. Gerald Posselt und Sergej Seitz grenzen sich von dieser traditionellen Lesart ab, die häufig mit einem "reduktionistischen Verständnis von Sprache" einhergeht. Für sie ist Sprache nicht nur ein reines Kommunikationsmittel, sondern birgt immer auch ethische und politische Implikationen. Verbale Gewalt wird häufig als Sonderform physischer Gewalt definiert – die Philosophen der Universität Wien hingegen argumentieren, dass Sprache als eigenständige Gewaltkategorie behandelt werden müsse.

Von Foucault bis Butler

Um das komplexe Bedingungsverhältnis von Sprache und Gewalt zu analysieren, orientieren sich die Wissenschafter u.a. an der Diskursanalyse Michel Foucaults, der Dekonstruktion Jacques Derridas und den phänomenologischen Ansätzen Emmanuel Levinas'. Auch Judith Butlers Theorie der Performativität ist für ihre Auseinandersetzung von Bedeutung: "Wichtige Erkenntnisse liefern die feministische Linguistik und die Queer Theory. Die Strukturen und Konventionen der Sprache bestimmen nicht nur, was sich sagen lässt, sondern auch, was vom Raum des Sprechens ausgeschlossen bleibt: Auch das ist eine Form sprachlicher Gewalt", so Posselt.

Whistleblowing: Politische und ethische Dimensionen des Sprechens

Auch wenn es sich bei dem Forschungsvorhaben in erster Linie um Grundlagenforschung handelt, so werden doch auch Beispiele von aktueller Relevanz analysiert: "In den letzten Monaten habe ich mich verstärkt mit dem Phänomen des Whistleblowings beschäftigt." Für Posselt ist der Fall Edward Snowden ein Prüfstein für eine funktionierende Demokratie: Zentral ist hier der Foucault'sche Begriff der "Parrhesia" – des offenen und wahrhaften Sprechens.

Darunter versteht Foucault ein Sprechen, in dem das Individuum, das sich kritisch mit der Wahrheit an den Mächtigen richtet, nicht nur sein Leben aufs Spiel setzt, sondern sich zugleich als ethisches und politisches Subjekt konstituiert, indem es sich an die gesagte Wahrheit bindet. "Diese Wahrheit ist für das Gegenüber verletzend, aber auch der Sprecher offenbart seine eigene Verletzlichkeit, wie der Fall Snowden auf drastische Weise deutlich macht. Hier zeigt sich die politische und ethische Dimension des Sprechens in ihrer ganzen Tragweite", so Posselt.



Doktorand Sergej Seitz (re.) forschte zu dem Foucault'schen Begriff der "Parrhesia" und unterstützt das aktuelle Projekt "Sprache und Gewalt" unter der Leitung von Gerald Posselt tatkräftig.



Gewalt im digitalen Zeitalter

Gewalt als kommunikative Strategie ist wesentlich an neue Medien gebunden. Als Beispiele nennt Posselt etwa die Folterfotos aus Abu Ghuraib, die im Mai 2004 im Internet kursierten, oder das in Schulen praktizierte "Happy Slapping": Hierbei picken sich Jugendliche ein Gruppenmitglied heraus und fügen ihm oder ihr vor laufender Handykamera Gewalt zu. Die Aufnahme wird daraufhin online gestellt und öffentlich zugänglich gemacht. "Es geht hier nicht nur um die konkret zugefügte Gewalt, sondern um die Gewalt, die das Individuum durch die technische Vervielfältigung der Bilder erfährt. Durch die virtuellen Medien wird die Gewalt permanent wiederholt und somit potenziert", so der Projektleiter.

Von der Naturwissenschaft zur Philosophie

Gerald Posselt blickt auf eine eher untypische Biografie zurück: Begonnen hat er sein Studium mit Physik und Chemie an der Universität Darmstadt. "Irgendwann dachte ich mir: Das kann es nicht gewesen sein!", schmunzelt der deutsche Wissenschafter. Er wechselte zur Philosophie und zur germanistischen Linguistik, wobei ihn insbesondere sprachphilosophische Fragestellungen interessierten: "Sprache ist nicht einfach nur ein Instrument oder Kommunikationsmittel. Es ist das, was uns erst zu menschlichen Subjekten macht und damit Raum für ethisches und politisches Handeln eröffnet."

Er studierte in Freiburg, forschte an der UC Berkeley und nahm an einem Graduiertenkolleg an der Viadrina in Frankfurt an der Oder teil. 2002 kam der Wissenschafter im Rahmen eines vom österreichischen Wissenschaftsministerium geförderten Forschungsprojekts nach Wien und nahm zwei Jahre später seine Lehrtätigkeit am Institut für Philosophie der Universität Wien auf.

Hier beschäftigt ihn nicht nur sein aktuelles Projekt, sondern auch die Vortragsreihe "Transformationen des Politischen", die er mit seinem Kollegen Matthias Flatscher ins Leben gerufen hat: "Dabei geht es um aktuelle Forschung an der Schnittstelle von Politischer Philosophie, Sozialphilosophie und Sprachphilosophie", erklärt Posselt. Es werden Vorträge, Buchbesprechungen und Workshops organisiert, zu denen nicht nur ExpertInnen aus dem Fach, sondern auch Studierende als ReferentInnen eingeladen werden. "Es ist uns wichtig, Studierende früh an das Forschen heranzuführen." (hm)

Das FWF-Projekt "Sprache und Gewalt. Die ethisch-politische Wende zur Sprache nach dem linguistic turn" von Dr. Gerald Posselt, M.A. und Sergej Seitz, M.A. vom Institut für Philosophie der Universität Wien läuft vom 1. März 2014 bis zum 28. Februar 2017.