Shakespeare: "Erfinder des Menschlichen"

Am 3. Mai – nach dem gregorianischen Kalender gerechnet – jährt sich der Todestag des weltweit meistverkauften Autors, William Shakespeare, zum 400. Mal. Shakespeare-Experte Dieter Fuchs vom Institut für Anglistik spricht im Interview über die bis heute reichende Faszination des Barden.

uni:view: Die Stücke von William Shakespeare zählen zu den am häufigsten aufgeführten und verfilmten Bühnenstücken der Weltliteratur. Was macht seine Faszination bis heute aus?
Dieter Fuchs:
"Shakespeare hat neben Gott das Meiste erschaffen" sagte Alexandre Dumas. Das spiegelt den Mythos Shakespeare sehr gut wider. Shakespeare hat nach Harold Bloom als erster das moderne Subjekt in seiner ganzen Menschlichkeit dargestellt – dadurch ist er so zeitlos. Da es ihm gelungen ist, den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit darzustellen, ist das Werk offen für viele Fragen und gibt gleichzeitig viele Antworten. Shakespeare erzählt Universalgeschichten über die menschliche Disposition, diese Tatsache macht ihn zudem kulturübergreifend.

uni:view: Das Menschliche bei Shakespeare – können Sie das näher erläutern?
Fuchs:
In der traditionellen Literatur – vor Shakespeare – gab es recht eindimensionale Figuren: übermenschlich heroische Helden, treue Jungfrauen und böse Bösewichte. Bei Shakespeare ist es so, dass selbst die allergrößten Schurke n trotzdem ihre menschlichen Seiten zeigen. Umgekehrt blitzt in seinen Komödien vor dem Ende immer auch ein dunkler Abgrund auf.

uni:view: Bei welcher Komödie zum Beispiel?

Fuchs:
Der "Mittsommernachtstraum" ist dafür ein gutes Beispiel. Die Figuren lieben sich, sie fliehen, um das Ehegebot des Vaters zu umgehen, und verbringen die Nacht im Wald. In dieser dunklen Welt fernab der Stadt kommen dann die Urtriebe, die unterdrückten Affekte heraus — bis hin zur physischen Gewalt, sogar bis zum versuchten Totschlag. Am nächsten Tag geht die Sonne auf und plötzlich ist alles wieder scheinbar gut. Die Charaktere haben ihre physischen und psychischen Affekte in der nächtlichen Gegenwelt erfahren und dadurch zeigt Shakespeare, dass in jedem Menschen auch ein Tier steckt und im Umkehrschluss in jedem Bösewicht auch eine gute Haut.

Die sexuelle Doppeldeutigkeit in der Sterbeszene von "Romeo und Julia"

Shakespeares Werke sind voller derber, doppeldeutiger Wortwitze, die zumeist in der Übersetzung ins Deutsche verloren gehen. Dieter Fuchs erklärt: "'Romeo und Julia' gilt gemeinhin als ein besonders auratisches Stück unsterblicher und hoher Liebe – es ist aber voller obszöner Anspielungen. So enthält sogar die tragischste Szene – der Tod Julias – einen sexuell konnotierten Subtext." Julias letzte Worte lauten wie folgt:
O happy dagger!
(Snatching ROMEO's dagger)
This is thy sheath;
(Stabs herself)
there rust, and let me die.
(Falls on ROMEO's body, and dies)
Das letzte Wort "die" bedeutet nicht nur "sterben‘, sondern umgangssprachlich auch "sexueller Höhepunkt / Orgasmus". Wenn sich Julia Romeos phallischen Dolch in ihren als "sheath" bezeichneten Frauenkörper rammt, wird der tragische Tod burlesk als sexueller Akt karikiert. (Bild: Filmplakat Romeo + Juliet)

uni:view: Alle Figuren sind also sowohl gut als auch böse – wie es heute in der Literatur gang und gäbe ist?
Fuchs:
Diese Darstellungen der menschlichen Psyche machen diesen Bestsellera-Autor aus der Frühen Neuzeit unglaublich modern. Dass diese beiden Gegensätze — gut und böse — ganz nah beieinander liegen, ist ja auch eine Entdeckung des frühen 20. Jahrhunderts, als die Psychologie aufkam. Sie zeigte damals  auf, dass der Mensch durch seine Sexualität, seine Triebe determiniert ist und weniger seinem eigenen Willen gehorcht. Das hat Sigmund Freud in und für unsere Zeit entdeckt, Shakespeare aber hat es aus seiner Lebenserfahrung bereits in archetypischer Weise in seine Stücke eingeschrieben. Darum gilt er eben als der Erfinder des Menschlichen.

uni:view: Shakespeare war bereits zu Lebzeiten berühmt, seine Dramen und Komödien sorgten für ausverkaufte Häuser in London. Wie wurde er zu seiner eigenen Zeit rezipiert?
Fuchs:
Shakespeare ist eigentlich als Theatermann und Firmenteilhaber erfolgreich geworden, und nicht als Künstler. Damals nagten die Autore n alle am Hungertuch, weil sie durch kommerzielle Theaterleute ausgebeutet wurden. Shakespeare aber kaufte sich in eine Theatergruppe ein, wurde Teilhaber des Unternehmens Globe Theatre und hat für dieses auch seine Stücke geschrieben. Sein kommerzieller Erfolg ist aber auch darauf zurück zu führen, dass es ihm gelungen ist, Stücke für Alle zu schreiben, also alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen. Ich vergleiche das frühneuzeitliche Theater gerne mit dem heutigen Kino. Londoner Theater waren Massenunternehmen, pro Aufführung kamen 1.500 bis 3.000 zahlende Gäste. Die Karten waren billig genug, dass sich selbst ein Lehrling den Besuch leisten konnte – so hat das damalige Theater alle gesellschaftlichen Schichten umfasst.

Die Komödie "Much About Nothing" ist im Deutschen unter dem Titel "Viel Lärm um Nichts" bekannt. Die Übersetzung lässt es aber ungeahnt, dass im frühneuzeitlichen Englisch "nothing" auch die weibliche Scham / Vagina bezeichnete: um der Derbheit jenes Wortspiels Rechnung zu tragen, könnte man den Dramentitel alternativ als "Viel Lärm um eine xxxx" übersetzen. (Bild: Perry-Castañeda Library, University of Texas in Austin, gemeinfrei unter Wikimedia Commons)


uni:view: Das heißt, zum Klassiker der Weltliteratur wurde Shakespeare erst viel später erhoben?
Fuchs:
Shakespeare war schon zu Lebzeiten geschätzt, und zwar für seine 154 Sonette. Ernsthafte Dichter der damaligen Zeit schrieben Gedichte oder ovidische Kurz-Epen — auch davon hat Shakespeare zwei verfasst  — und diese galten als höfische, hohe Literatur. Theaterstücke wurden als triviale Unterhaltungsware erachtet. Nicht allzu lange nach seinem Tod wurde Shakespeare aber durch die Veröffentlichung seines Oeuvres in einer prestigeträchtigen Folio-Ausgabe auch für seine Bühnenwerke als anerkannter Literat wahrgenommen.

uni:view: Im deutschsprachigen Raum ist sein literarischer Einfluss ja auch nicht unwesentlich…
Fuchs:
Ja, für den deutschsprachigen Raum ist Shakespeare in der Zeit des Sturm und Drang entdeckt worden. Goethe und Schiller, die jungen Wilden dieser Epoche, die sich ganz klar als Gegenbewegung zum französischen Klassizismus verstanden, haben ihn zum Vorbild erhoben. Sie sahen in Shakespeare ein Naturgenie. Man kann sagen, dass der Sturm und Drang und in Folge die deutsche Klassik ohne die Entdeckung Shakespeares nicht funktioniert hätte.

uni:view: Immer wieder wird Shakespeare als alleiniger Urheber aller ihm zugeschriebenen Werke in Frage gestellt, durchaus auch in akademischen Kreisen. Ist an dieser Theorie etwas dran?
Fuchs:
Das ist eine ideologische Frage. Unterschiedliche Verfasserschafts-Theorien gibt es seit dem 18. Jahrhundert. Diese reichen von Christopher Marlowe über Königin Elisabeth oder Sir Francis Bacon bis hin zu Edward de Vere, 17. Earl of Oxford. Bis heute gibt es die Oxfordianer, die glauben, dass dieser Earl of Oxford in Wirklichkeit Shakespeare war. Diese Meinung entspringt aber aus einer bestimmten Wahrnehmung heraus: Alles, was es an gesicherten Dokumenten über Shakespeare gibt, sind Einträge ins Taufregister sowie vor allem Handelsurkunden. Oxfordianer glauben nicht, dass ein gewiefter Geschäftsmann auch gleichzeitig dieses große Genie sein kann, das doch eigentlich nur in der Aura der hohen Kunst schweben müsste.

uni:view: Sie selbst sind also kein Oxfordianer?
Fuchs:
Richtig. Für mich ist es ein  Zeichen für die Universalität Shakespeares, dass er das bodenständige Tagesgeschäft mit der hohen Kunst – obwohl sie damals nicht als solche erachtet worden ist – verknüpft. Hier hat der bürgerliche Shakespeare gegenüber dem Adligen Earl of Oxford einen großen Vorsprung. Gerade deshalb ist es ihm vielleicht so gut gelungen alle Schichten im Theater anzusprechen. Insofern ist "mein" Shakespeare gleich dem historisch belegten Shakespeare.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!

William Shakespeare schrieb nicht nur seine Stücke exklusiv für das elisabethanische Globe Theatre, er war auch Teilhaber des Unternehmens. Aus dem Grund war er kein "am Hungertuch nagender" Künstler, sondern ein wohlhabender und erfolgreicher Geschäftsmann. (Foto: von Schlaier, gemeinfrei unter Wikimedia Commons)

Dr. phil. Dieter Fuchs, M.A. ist am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Irish Studies, Literary and Cultural Theory and Shakespeare and Early Modern Studies.