Ruiniert uns der Bildschirm die Freude am Lesen?

Manchmal sucht die Wissenschaft nach Unterschieden – findet aber keine. Warum das eine gute Nachricht ist, erzählen der Kommunikationswissenschafter Hajo Boomgaarden und der Literaturwissenschafter Günther Stocker. Sie erforschen den Einfluss digitaler Medien auf die Erfahrung literarischen Lesens.

uni:view: In Ihrem aktuellen Projekt "Books on Screen" untersuchen Sie, wie sich die Leseerfahrung unterscheidet, ob man zum klassischen Buch oder aber zum E-Book greift. Wie sind Sie an diese Frage herangegangen, lässt sich die literarische Erfahrung denn überhaupt messen?

Hajo Boomgaarden: Unter anderem, in dem wir experimentelle Leseforschung betreiben: So haben wir in unserem aktuellen Projekt über 200 Proband*innen zum Lesen eingeladen. In gemütlicher Leseumgebung – im klassischen Lesesessel, bei angenehmem Licht, es gab sogar Kekse – bekamen sie ein Kapitel eines Romans von Arno Geiger zu lesen. Eine Gruppe das klassische Buch, die andere die E-Book-Version auf einem E-Reader.

Günther Stocker: Üblicherweise arbeiten Leseexperimente mit kurzen, geradlinigen und oft nur zusammengehefteten Texten als Kontrast zum Text auf Bildschirmen. Wir haben bewusst einen längeren, literarisch anspruchsvollen Text gewählt und die haptische und räumliche Erfahrung des Buches mitberücksichtigt. Und anschließend haben wir nicht nur das allgemeine Verstehen der "Story" abgefragt, sondern sind auch auf die spezifische Erzählweise eingegangen, die Metaphorik, usw.

uni:view: Leseforschung wird von verschiedenen Fachbereichen durchgeführt. Auch Ihr Team ist interdisziplinär aufgestellt – aber mit einem Schwerpunkt auf Literaturwissenschaft. Was macht Ihre Studie besonders?

Stocker: Was man aus literaturwissenschaftlicher Sicht an vielen Experimenten der Leseforschung bemängeln kann, ist, dass der literarische Text als solcher darin oft eine nebensächliche Rolle spielt. Daher finde ich es ganz wichtig, dass sich die Literaturwissenschaft viel mehr in die Leseforschung einmischt, denn Pädagog*innen und Psycholog*innen setzen andere Schwerpunkte.

Forschungsprojekt zur Digitalisierung des Lesens
Durch die zunehmende Verbreitung von E-Books und dem Lesen auf Bildschirmen scheint sich die Lesekultur stark zu verändern, nämlich weg vom konzentrierten, vertieften Lesen, das als die "angemessene und natürliche" Leseform gilt. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt "Books on Screen" geht nun der Frage nach, wie sich dadurch die literarische Erfahrung verändert. Damit sollen wichtige Erkenntnisse für die beteiligten Wissenschaften gewonnen werden, aber vor allem für die gesellschaftlichen Institutionen, die die Lesekultur tragen – also Schule, Universität, Buchhandel und Verlage sowie Bibliothekswesen.

uni:view: Was ist nun besser, digital oder analog?

Boomgaarden: Unsere bisherigen Ergebnisse widersprechen den kulturpessimistischen Annahmen, dass mit der Digitalisierung der Literatur alles den Bach runter gehen würde. Für die Leseerfahrung, das Eintauchen in den Text, die emotionale Beteiligung usw. spielt es tatsächlich eine geringere Rolle, ob man nun im Buch oder im E-Reader schmökert. Was sich ändert, ist vielmehr der Umgang mit Büchern, das Leseverhalten.

Und es ließ sich ein signifikanter Unterschied im Bereich räumliche Orientierung feststellen. Jene Proband*innen, die den Text in Form des gedruckten Buches gelesen hatten, konnten sich an Passagen aus dem Anfang des gelesenen Abschnittes besser erinnern als die E-Book-Leser*innen.

uni:view: Ein E-Book kann man sich aber nicht ins Regal stellen, um Besuch zu beeindrucken …

Stocker: Tatsächlich erzählen uns Teilnehmer*innen der Fokusgruppen-Interviews, die wir als ergänzende Methode zu den Experimenten vor kurzem durchgeführt haben, dass sie Bücher, die ihnen während des Lesens als E-Book besonders wichtig geworden sind, zusätzlich in gedruckter Form kaufen und zuhause ins Regal stellen. Das hat zu tun mit einer Idee von intellektuellem Besitz, auch mit der Ikonizität des Buches. Wenn Sie es täglich im Regal sehen, dann wissen Sie, dass es in Ihrem geistigen Universum präsent ist. Wir stellen auch fest, dass die Anwesenheit eines Buches die Erinnerung daran stärkt, während der Inhalt gelesener E-Books schneller vergessen wird. Das sind erste Erkenntnisse aus unseren Fokusgruppen, ohne Anspruch auf Repräsentativität. Aber sie helfen, bestimmte Muster zu erkennen, mit denen wir weiterarbeiten.

Boomgaarden: Umgekehrt beschreiben Teilnehmer*innen der Fokusgruppen, dass sie, seit sie E-Reader verwenden, in Situationen lesen, in denen sie früher nie ein Buch zur Hand genommen haben. Nun lesen sie auf einmal an der Straßenbahnhaltestelle, auch wenn die Wartezeit nur drei Minuten beträgt.

uni:view: Apropos öffentliche Verkehrsmittel und Wartezeiten: Wie schaut es mit der Leseerfahrung beim Lesen auf Smartphones aus?

Boomgaarden: E-Reader sind der Versuch, das Buch zu kopieren, und der ist offenbar gut gelungen. Handy oder Tablet haben ein völlig anderes Ablenkungspotenzial. Wenn es die Pandemie erlaubt, werden wir im zweiten Teil des Projekts Experimente durchführen, in denen wir literarische Texte auf Smartphones lesen lassen. Was uns in weiterer Folge aber besonders interessiert ist, warum manche Menschen bestimmte Texte lieber digital lesen und andere gedruckte bevorzugen.

Stocker: Jenseits des Lesemediums beschäftigen uns nämlich auch die unterschiedlichen Leser*innentypen. Der Einfluss des Lesemediums auf den Leseprozess und auch die Nachwirkungen sind stark von der lesenden Person abhängig. Das ist noch ein Faktor, der aus meiner Sicht dazu kommen muss.

uni:view: Was verstehen Sie unter Lesetypen?

Stocker: Es gibt Leute, die beim Lesen ganz stark auf Spannung aus sind, andere, die ästhetisch anspruchsvolle Literatur bevorzugen, wieder andere sagen, "ich will mich beim Lesen ausblenden aus meiner Wirklichkeit".

uni:view: Auf welche gesellschaftlichen Auswirkungen der Erkenntnisse Ihres Projekts hoffen Sie? 

Boomgaarden: Wir stellen fest, dass man durch unsere Ergebnisse etwas weniger naserümpfend auf E-Reader und die Digitalisierung des Lesens schaut. Die Welt geht nicht jedes Mal unter, wenn ein neues Medium auftaucht. Dass sich etwas verändert, steht außer Frage – wir untersuchen, in welche Richtung und mit welchen Konsequenzen. Unsere Ergebnisse werden dann wieder in andere Bereiche transferiert, etwa in die Pädagogik, wo untersucht wird, wie Schule oder universitärer Unterricht davon beeinflusst werden. Oder in Richtung Bibliotheken, die auf diesen Wandel reagieren müssen.

uni:view: Lesen Sie privat analog oder digital?

Boomgaarden: Ich lese Literatur analog und nur selten einmal im Urlaub auf dem Kindle.

Stocker: Was das Lesen von literarischen Texten betrifft, habe ich vor ein paar Jahren einen Selbstversuch mit einem E-Reader unternommen, bin dann aber bald wieder zu gedruckten Büchern zurückgekehrt. 

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (ak) 

Hajo Boomgaarden ist Professor für Empirische Sozialwissenschaftliche Methoden mit Schwerpunkt Textanalyse am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und derzeit Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Wien. Günther Stocker ist assoziierter Professor für Neuere deutsche Literatur. Im FWF-Projekt "Books on Screen. Zur Digitalisierung des Lesens", das noch bis Ende Mai 2022 läuft, arbeiten weiters die beiden Doktorand*innen Lukas Brandl (Germanistik) und Annika Schwabe (Psychologie) mit.