Rudolf und "seine" Geheimschrift

Hat Rudolf der Stifter die Geheimschrift, die sich u.a. auf einer seiner Schenkungsurkunden findet, selbst benutzt oder gar erfunden? Im Zuge der Vorbereitungen für die Jubiläums-Ausstellung "Wien 1365" konnte dieses Rätsel gelöst werden, wie Literaturwissenschafter Stephan Müller berichtet.

Schon bald nach seinem Tod im Jahre 1365 galt Rudolf der Stifter, der Gründer der Universität Wien, als Erfinder einer Geheimschrift. In der "Österreichischen Chronik von den 95 Herrschaften" heißt es am Ende des 14. Jahrhunderts, dass der Herzog "new figuren und půchstaben, die vormals nie chain auge het gesehen" erfunden habe. Tatsächlich ist ein Epitaph Rudolfs, das heute im Bischofstor des Wiener Stephansdoms eingelassen ist, in einer solchen Geheimschrift abgefasst.

Neben dieser Inschrift finden sich die seltsamen Buchstaben noch auf einem Siegel und auf einer Urkunde vom 4. Juni 1360, mit der Rudolf dem Stephansdom die Reliquien des Hl. Trophinus, der Hl. Sophia, des heiligen Papstes und Märtyrers Urban sowie des heiligen Soldaten und Märtyrers Theodor überlässt. Diese Urkunde, die heute im Diözesanarchiv in Wien aufbewahrt wird, ist umrahmt mit einem deutschsprachigen Gebetstext in der Geheimschrift Rudolfs.

Die ältere Forschung schloss aus diesen Belegen, dass die Geheimschrift von Rudolf selbst stamme. Nach den Untersuchungen von Bernhard Bischoff zu den Geheimschriften des Mittelalters musste man aber feststellen, dass das verwendete Geheimalphabet sehr häufig überliefert ist, allgemein bekannt war und an keiner Stelle als Erfindung Rudolfs bezeichnet wird. So wurde das Urteil revidiert, und man ging in weiterer Folge davon aus, dass Rudolf das Alphabet nicht selbst erfunden und vielleicht auch gar nicht selbst damit geschrieben hat.

Urkunde Herzog Rudolfs IV. über die Schenkung von Reliquien an die Kirche St. Stephan, Wien, 4. Juni 1360


"almechtiger got und gewaltiger herr jesus christus, ain schepher aller ding durch deiner mueter megtlichen eren und durch deins heiligen leichnams und durch aller deinen heiligen und engel willen enpach dicz opher dir zu low und mir rudolfen herzog und katrein meinen weiw und allen meinem geswistreiten und allen meinen landen ze trost. amen"


Als noch nicht einmal Zwanzigjähriger hat Rudolf IV 1359 einen Entschluss von großer Tragweite gefasst: St. Stephan soll Ort seiner Grablege werden. Dass der Herzog dieser Entscheidung Seelenheilstiftungen folgen lässt, ist zu erwarten.

Ein Jahr später, am Fronleichnamstag des Jahres 1360, schenkte dann Rudolf IV. der Kirche St. Stephan Reliquien aus habsburgischem Herrschaftsgebiet (Aargau, Elsaß und Steiermark). Die Reliquien waren zuvor in der großen Fronleichnamsprozession durch die Stadt mitgetragen worden. Erhalten hat sich die Stiftungsurkunde. Sie ist in feierlicher Buchschrift geschrieben und war vermutlich dazu bestimmt, gemeinsam mit den Reliquien bei kirchlichen Anlässen öffentlich ausgestellt zu werden. Zeitweilig hing sie auch unter dem Porträt Rudolfs im Kapitelsaal.

Wie später auch die Stiftungsbriefe für die Universität Wien trägt die Urkunde eine eigenhändige Corroboratio (= Unterschrift) des Herzogs und mehr noch: Mit derselben Tinte, und wohl von derselben Hand geschrieben, umrahmen den Text der Urkunde sonderbar erscheinende Zeichen einer ungewöhnlichen Schrift. Der Inhalt ist ein Gebet, bzw. eine Fürbitte, in der auch Rudolfs Frau und seine Geschwister eingeschlossen sind.

Urkunde: Diözesanarchiv, 53.5x38cm, DAW Urkundenreihe 04.06.1360, schwarze, rote und blaue Tinte auf Pergament, Fleuronée, ehemals besiegelt. Foto: Institut für Kunstgeschichte/Universität Wien

Sensationelle Ergebnisse


In einem inzwischen abgeschlossenen und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertem Forschungsprojekt zu den deutschen Glossen und Texten in Geheimschrift konnten wir indes noch weitere Zeugnisse für das Alphabet finden: Eine Neubewertung des Materials ergab, dass wir keine Handschrift nachweisen können, die vor Rudolfs Lebenszeit datiert.

Im Zuge der Vorarbeiten für die Jubiläums-Ausstellung "Wien 1365. Eine Universität entsteht" wurde nun die Schenkungsurkunde – persönlich überbracht von Johann Weißensteiner aus dem Diözesanarchiv in Wien – an der Akademie der bildenden Künste im Detail analysiert: Manfred Schreiner "durchleuchtete" das Dokument am dortigen Institut für Naturwissenschaften und Technologie mittels eines noninvasiven Röntgenfluoreszenzverfahrens.

Das Ergebnis dieser interuniversitären Zusammenarbeit ist sensationell: Am Ende der Urkunde bestätigt Rudolf den Text selbst mit seiner Unterschrift: "Wir der vorgenant Herzog Ruodolf sterken disen prief mit dir underschrift unser selbs hant". Rudolf ist bekannt für seine eigenhändige Unterschrift, und damit haben wir einen Vergleichstext zur geheimschriftlichen Umschrift. Die Röntgenanalyse belegt nun eindeutig, dass beides – Unterschrift und geheimschriftliches Gebet – mit derselben Tinte geschrieben wurde. Und das bezeugt den Herzog so gut wie sicher als Schreiber der Geheimschrift.

Rudolfs Geheimschrift

Rudolf ist damit als erster Schreiber der Geheimschrift identifiziert, die man nach Lage der Quellen dann doch wohl als "seine" Geheimschrift ansehen darf. Wie die Erfindung erfolgte, und welches seine Vorbilder waren, darüber ist noch zu forschen.

Um Geheimhaltung wird es dem Herrscher dabei übrigens nicht gegangen sein, denn tatsächlich gibt es zahlreiche Belege, dass man das Alphabet kannte und benutzte. Zweck des erfundenen Alphabets ist die Herstellung einer ganz speziellen Form auratischer Präsenz: Die Schrift ist eine individuelle Spur des Herrschers und birgt die Aufforderung in sich, sie zu lesen und zu verstehen und sich dabei an Rudolf den Stifter zu erinnern – und genau dazu laden die Ausstellung "Wien 1365. Eine Universität entsteht" sowie ihre Begleitpublikation im 650-Jahr-Jubiläum der Universität Wien ein.

Stephan Müller ist Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.