Revolution im Wasserglas

In Nordafrika finden derzeit weltweit beachtete Revolutionen statt. Im Gefrierschrank vollziehen sich täglich zigtausende Revolutionen – und bleiben weitgehend unbemerkt. Ein Team von drei Physikern der Universität Wien und der Universität Amsterdam hat nun erforscht, wie Flüssigkeiten genau gefrieren: Ausschlaggebend ist dabei die den Kristallkern umgebende Teilchenwolke, deren Bestandteile zwar schon eine gewisse Struktur aufweisen, jedoch noch keine richtigen Kristalle bilden. Sie publizieren dazu in der aktuellen Ausgabe der "Physical Review Letters".

Ägypten, 25. Jänner 2011 – eine kleine Gruppe von Studierenden versammelt sich am Hauptplatz von Kairo, um ihren Unmut über den derzeitigen Zustand des Systems kund zu tun. Noch vor wenigen Monaten wäre ein solcher Keim der Demokratie in kürzester Zeit vom alten Regime aufgelöst worden. Diesmal aber nicht. Die jungen Frauen und Männer stehen dicht gedrängt da, entschlossen. Die Gruppe wächst und wächst, um schließlich den ganzen Platz und das ganze Land zu verändern.

"Aber wie kann es sein, dass, wie bei den meisten Revolutionen, eine kleine Gruppe, manchmal einzelne charismatische Personen, ein ganzes System verändern können?", fragte sich Wolfgang Lechner, ehemaliger Dissertant von Christoph Dellago an der Fakultät für Physik, der derzeit am Van 't Hoff Institute for Molecular Sciences der Universität Amsterdam beschäftigt ist.

Nukleation – Die Revolution der Wassermoleküle

In der Physik hat dieses Phänomen einen Namen: Nukleation. Christoph Dellago, Experte für Computational Physics und Mitglied des Spezialforschungsbereichs "Vienna Computational Materials Laboratory", erklärt das folgendermaßen: "Nehmen Sie ein Glas Wasser und stellen Sie es abends in den Gefrierschrank. Am nächsten Morgen werden Sie ein Glas voll Eis vorfinden. Nichts Besonderes. Was sich aber im Dunkel der Nacht im Glas zugetragen hat, steht an Dramatik der Revolution am Tahrir Platz um nichts nach."

Zu Beginn wird das Wasser einfach kühler – bis zum Gefrierpunkt. Bei null Grad Celsius wird das Wasser aber nicht sofort zu Eis, sondern, abhängig von der Reinheit des Wassers, wird es flüssig bleiben und weiter abkühlen. Dieser sogenannte unterkühlte Zustand ist der Nährboden für die Revolution der Wassermoleküle. Bei diesen Temperaturen möchten sie nicht länger flüssig bleiben, sondern zu Eis werden. In der Folge schließen sich einige wenige spontan zu einem Eiskristall, dem Keim, zusammen. Dieser wächst und lässt das gesamte Wasser blitzschnell zu Eis erstarren.

Kerngröße allein entscheidet nicht über Keimbildung

Die Frage, was das Wasser am Gefrierpunkt daran hindert, sofort zu Eis zu erstarren, beschäftigt Menschen seit jeher. Anfang des letzten Jahrhunderts konnte das Phänomen mathematisch formuliert werden – in Gleichungen, die seither unter dem Namen "klassische Nukleationstheorie" bekannt sind. Diese äußerst elegante Theorie besagt, dass sich zwar ständig Keime bilden, diese aber nur wachsen können, wenn sie eine gewisse, kritische Größe erreichen. Die Kleinen werden immer wieder zerstört, und die Großen wachsen unaufhaltsam.

Computersimulationen haben in den letzten Jahren allerdings gezeigt, dass bei dieser Theorie eine Kleinigkeit nicht stimmt. Es stellte sich heraus, dass manche Keime wachsen, die eigentlich zu klein sind, und andere, die groß genug wären, wieder verschwinden. Es muss also zusätzliche Eigenschaften der Keime geben, die ihr weiteres Schicksal bestimmen – nur welche?

Teilchenwolke bestimmt über Sein oder Nichtsein der Revolution

Dieser Frage sind nun Physiker der Universität Wien und der Universität Amsterdam nachgegangen. Wolfgang Lechner, Christoph Dellago und Peter G. Bolhuis konnten zeigen, dass Nukleationskeime keine einheitliche Struktur haben, sondern – wie eine Zwiebel – aus mehreren Schichten aufgebaut sind. Nur der innerste Kern besteht aus der gewünschten Kristallstruktur. Dieser Kern ist umgeben von einer Wolke aus Teilchen, die zwar schon eine gewisse Struktur aufweisen, jedoch keine Kristalle sind.

"Nimmt man beide Größen, die des Kerns und die der Teilchenwolke, in die Theorie auf, kann man sehr genau vorhersagen, ob die Transformation stattfinden wird oder nicht", erklärt Physiker Wolfgang Lechner die neue Erkenntnis und weiter: "Wenn dieser Teilchenwolke-Puffer groß genug ist, können auch kleine Keime wachsen, die es von sich aus nicht schaffen würden."

Die Teilchenwolke ist also entscheidend, ob der Keim wachsen oder schrumpfen wird – also über Sieg oder Niederlage. So wie die Menschen, die aus Unzufriedenheit zum Tahrir Platz kommen, um zuzuschauen, aber noch unentschlossen sind, ob sie sich dem Protest anschließen oder wieder nach Hause gehen sollen. Diese Unzufriedenen, aber noch Unentschlossenen auf seine Seite zu bekommen, ist es, was am Ende zählt. Damit kann man auch die entscheidende Phase der Revolution im Wasserglas besser verstehen. (red)

Das Paper "Role of the Prestructured Surface Cloud in Crystal Nucleation" (Autoren: Wolfgang Lechner, Christoph Dellago, and Peter G. Bolhuis) erschien im Journal "Physical Review Letters".