Propaganda im Kinderzimmer

Kinder als "ModellbürgerInnen"? Machteld Venken vom Institut für Osteuropäische Geschichte untersucht Nationalisierungsbestrebungen in polnisch-deutschen bzw. belgisch-deutschen Grenzgebieten der Zwischen- und Nachkriegszeit – ihr Forschungsinteresse gilt dabei den Jüngsten.

"Europa blickt auf ein turbulentes Jahrhundert zurück, in dem sich Grenzen immer wieder verschoben und nationale Zugehörigkeiten verändert haben", erklärt Historikerin und Slawistin Machteld Venken von der Universität Wien. In ihrem aktuellen Elise-Richter-Projekt untersucht sie die Nationalisierung von Kindern und Jugendlichen, die in annektierten Grenzregionen aufgewachsen sind. Am Donnerstag, 15. Jänner, und Freitag, 16. Jänner, organisiert sie einen Workshop rund um ihre Forschungsarbeit im Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften.  

Für ihr ambitioniertes Projekt plant die junge Wissenschafterin einen Zeit-Raum-Vergleich: Es soll die Nationalisierungspolitik Eupen-St. Vith-Malmedys (Belgien) und Oberschlesiens (Polen) in den zwei Nachkriegsperioden (1920/22-1939/40 sowie 1944/45-1960) in den Blick genommen werden. "Die belgische bzw. polnische Regierung verfolgte eine regelrechte Kindpolitik. Den 'ModellbürgerInnen der Zukunft' wurden gezielt nationale Werte eingebläut", so Venken.


Eupen-St. Vith-Malmedy (Belgien) und Oberschlesien (Polen): Beide Gebiete fielen nach dem Ersten Weltkrieg an Belgien bzw. Polen, wurden während des Zweiten Weltkrieges wieder von Deutschland annektiert und wurden nach Kriegsende wieder belgisches bzw. polnisches Staatsgebiet. (Foto: Gau Oberschlesien, Reichsstelle für das Schul- und Unterrichtsschrifttum, Deutscher Schulatlas, 1943, Wikimedia)



Indoktrination des "unschuldigen Nachwuchs"


Die Eingliederung der Ostkantone in Belgien bzw. Oberschlesiens in Polen führte häufig zu Spannungen: Die Regierungen begegneten der Bevölkerung dieser Regionen angesichts pro-deutscher Stimmungen mit Misstrauen und fürchteten das "Überlaufen zum Feind". Sie konzentrierten ihre Nationalisierungsmaßnahmen daher auf den "unschuldigen Nachwuchs", der politisch noch nicht geformt und für Propaganda anfälliger war.

"Spannungen wurden aber durchaus auch von Kindern wahrgenommen", berichtet Venken über ihre ersten Forschungsergebnisse: "Wenn zum Beispiel ein Polizist den Vater daheim in die Mangel nahm, befand sich das durch Schulprogramme und Freizeitorganisationen politisch geprägte Kind in einem Loyalitätskonflikt, und der Polizist war oftmals 'der Böse'. Diese Erfahrungen führten dazu, dass die Kinder – oft bis in das Erwachsenenalter – die staatliche Gewalt negativ einschätzten."

Forschung paneuropäisch

Sie möchte mit ihrem Projekt einige Lücken zwischen west- und osteuropäischer Geschichtsschreibung schließen und "paneuropäisch" arbeiten: "Es zeigt sich, dass die Nationalisierungsmaßnahmen in der polnischen und belgischen Grenzregion nach ähnlichen Mustern funktionierten", so die junge Wissenschafterin. In beiden Gebieten war die Ausbildung der Kinder ein zentrales Instrument, um nationale Zugehörigkeit zu "schulen": "Beispielsweise wurden die LehrerInnen, die während des Zweiten Weltkrieges im Grenzgebiet unterrichtet hatten, nach dem Krieg entlassen und durch Lehrkräfte aus dem Landesinneren ersetzt. Sie lehrten in Landessprache und hatten den Auftrag, mit 'nationalen Werten' zu arbeiten", erklärt Machteld Venken weiter.


 

"Wenn wir wollen, dass alle Menschen hier tatsächlich und inniglich belgisch denken, belgisch fühlen und belgisch handeln, müssen wir mit Hilfe nationalbewusster Lehrkräfte unser Volk umbilden, müssen wir durch entsprechende Regelung der Sprachenfrage sowohl unserer Werktätigen wie unserer studierenden Jugend die Möglichkeit geben, mit dem Innern des Landes in enger Verbindung zu treten." (Text: Bürgermeister Eupen Hugo Zimmermann, Anfang 1948, in: Grenz-Echo, 20.1.1948, S. 3-4)



Quellenarbeit: Von Archivmaterial bis "Oral History"


Beispiele für Nationalisierungsversuche lassen sich aber nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch in Jugend- und Freizeitorganisationen sowie in der Familien- und Wohlfahrtspolitik finden. Für ihre Forschungsarbeit durchforstet die Wissenschafterin daher Archive von Schulen, Kirchen, Jugendinstitutionen, Bibliotheken und historische Pressemeldungen.

Derzeit untersucht sie Schulbücher und Kindermagazine, die speziell für Kinder aus den Grenzregionen entwickelt wurden. "Ich stoße immer wieder auf Aufrufe für Kinder und Jugendliche, an organisierten Reisen in das Landesinnere teilzunehmen und dort 'polnische bzw. belgische Werte' zu erfahren", berichtet Venken.  

Die Elise-Richter-Stipendiatin interessiert sich auch für die "Oral History", die persönlichen Geschichten der ZeitzeugInnen. Wie haben Kinder selbst die Nationalisierungsmaßnahmen erlebt? Auf diese Frage hat Machteld Venken bereits einige Antworten: Im Zuge der Projektvorbereitung wurden 37 biographische Interviews mit Überlebenden der Nachkriegs-Ära geführt, die es nun auszuwerten gilt.

Forschung "in Kinderschuhen"

"Das Phänomen der Nationalisierung ist bereits gut aufgearbeitet", so die Einschätzung der Historikerin, "es mangelt in diesem Zusammenhang allerdings an Forschung über Kinder." Machteld Venken, gebürtige Belgierin und selbst Mutter zweier Kinder, kam 2011 im Zuge eines Lise-Meitner-Stipendiums nach Österreich und forscht seit April 2013 an der Universität Wien. Seitdem ist es der 34-Jährigen ein Anliegen, die Geschichtsforschung um die Perspektive der Kinder und Jugendlichen zu erweitern. (hm)

Das FWF-Projekt "Nationalisierung von Kindern/ Jugend in europäischen Grenzregionen" unter der Leitung von Mag. Dr. Machteld Venken, MA vom Institut für Osteuropäische Geschichte wird im Rahmen des Elise-Richter-Programms des FWF gefördert und läuft von 2014 bis 2018.

Workshop "Kindheit in europäischen Grenzregionen im 20. Jahrhundert-Growing Up in 20th Century European Borderlands"

Donnerstag, 15. bis Freitag, 16. Jänner 2015
Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien
Boerhaavegasse 25, 1030 Wien
Programm (PDF)