Oxforder Theologie in Wien

Vom "freien Fall" bis zur Sprachlogik: Elise-Richter-Stipendiatin Edit Anna Lukács untersucht den Einfluss der Oxforder Theologie auf die Gelehrten der Universität Wien im 14. Jahrhundert – und stößt dabei auf "revolutionäre Ideen".

"Es gab nicht 'die' Oxforder Theologie. An der britischen Universität wurden im 14. Jahrhundert eine Vielfalt an Meinungen diskutiert", erklärt Edit Anna Lukács von der Universität Wien. In ihrem aktuellen Elise-Richter-Projekt am Institut für Geschichte konzentriert sich die Philosophin auf eine in der Theologie immer wiederkehrende Debatte, nämlich jener um das "göttliche Wissen": Kennt Gott die Zukunft? Und was bedeutet das für den Menschen? Wilhelm von Ockham und Thomas Bradwardine sind die wohl prominentesten Kontrahenten in dieser Diskussion. Ihre Handschriften spürte Edit Anna Lukács zwischen 2011 und 2013 in österreichischen Archiven auf – nun sucht sie nach Dokumenten österreichischer Gelehrten, in denen die Oxforder Theologie diskutiert wird.  

Oxforder Theologie in Wien

Thomas Bradwardine war ein englischer Mathematiker, Philosoph und Theologe. Er ging davon aus, dass der "vollkommene Gott" alles wisse und kritisierte damit seinen Gegenspieler Wilhelm von Ockham. Für den mittelalterlichen Philosophen Ockham stand der Mensch im Vordergrund. Dieser sei frei und nicht durch göttliche Kenntnis determiniert. "Mich interessiert, wie dieser berühmte theologische Streitfall im 14. Jahrhundert an der Universität Wien weiterdiskutiert wurde. Das Werk von Bradwardine war bereits ab 1374 in Wien erhältlich – nur einige Jahre nach der Gründung der Universität Wien", so Lukács.
"Die Wiener Gelehrten schlossen sich weder der einen noch der anderen Meinung an, sondern kreierten eine Mischung: Demnach habe Gott ein bestimmtes Wissen über kontingente Dinge, dem Menschen bleibe jedoch eine Entscheidungskompetenz erhalten", berichtet die Wissenschafterin über ihre ersten Forschungsergebnisse.


Edit Anna Lukács geht mit ihrem Forschungsprojekt an die Anfänge der Universität Wien zurück. 1365 gegründet, ist sie die älteste Universität im deutschsprachigen Raum und feiert im kommenden Jahr ihr 650-Jahre-Jubiläum.



Via Paris nach Wien

Doch wie sind die Ideen von England nach Wien gekommen? "Die Universität Wien war schon immer international: Nicht nur die Studierenden, sondern auch die Lehrenden kamen aus verschiedenen Ländern", erklärt die Philosophin. Zu Zeiten des Abendländischen Schismas – der Spaltung der lateinischen Kirche – mussten alle deutschen Professoren aufgrund des anhaltenden Konflikts die Pariser Universität Sorbonne verlassen. Heinrich von Langenstein und Heinrich Totting von Oyta, zwei wichtige Denker mit Pariser Curriculum, haben sich daraufhin 1384 in Wien zusammengefunden und die Theologische Fakultät der Universität Wien mitbegründet: "Sie waren es auch, die die Oxforder Theologie nach Wien gebracht haben", ergänzt Lukács: "Denn sie integrierten die Auseinandersetzung um das göttliche Wissen in Forschung und Lehre an der Universität Wien."

Unbeachtetes Material

"In dieser Zeit war es üblich, dass alle Studierenden, die an der Universität Wien ihr Bakkalaureat abschließen wollten, ihre Thesen in einer öffentlichen Versammlung verteidigen und debattieren mussten", erzählt die Elise-Richter-Stipendiatin weiter: "Die Oxforder Theologie beeinflusste diese Diskurse nachhaltig." Im Zuge ihrer Forschungsarbeit am Institut für Geschichte untersucht Edit Anna Lukács Mitschriften dieser Dispute, Sentenzenkommentare und Bibelkommentare – Material, das in der Forschung bisher nahezu unbeachtet blieb.


Eine gewagte These im Mittelalter: "Gott das zukünftig Kontingente (...) nur auf kontingente Weise weiß." (Text: Wilhelm von Ockham, Abhandlung über die Prädestination und das Vorauswissen Gottes in Bezug auf das zukünftig Kontingente I,37, Übersetzung von Dominik Perler/ Foto: Wikimedia)



"Kritzeleien" aus dem Mittelalter

Um an die Abschriften und Kommentare zu gelangen, durchforstet Lukács Archive und Bibliotheken: "Das Material ist in ganz Österreich – u.a. in Melk, Lambach und Graz – aber auch über die Grenzen hinaus verstreut. Nur wenige Schriften sind digitalisiert, manchmal noch nicht einmal vollständig katalogisiert", erzählt sie von der Herausforderung. Die meisten Quellen, die Lukács untersucht, sind lange vor dem Buchdruck entstanden und somit handschriftlich: "Manchmal ist es gar nicht einfach, die 'Hieroglyphen' der damaligen Studenten zu entziffern. 'Kritzeleien' gab es auch schon im Mittelalter", schmunzelt sie.

Ein breit gefächertes Wissen

In ihrer Auseinandersetzung mit Ockham und Bradwardine stößt Lukács auf Diskussionen über Wissen, die Zukunft und den menschlichen Willen. "Diese Fragen beschäftigen die Philosophie auch heute noch", merkt die FWF-Projektnehmerin an. Sie begeistert sich vor allem für die metaphysischen Aspekte der Epoche, doch Bradwardine und Ockham werden oftmals auch von PhysikerInnen und LinguistInnen rezipiert: "Bradwardine theoretisierte den 'freien Fall', die Berechnung der Geschwindigkeit im theoretischen Fall, und Ockham forschte zur Sprachlogik. Wie viele ihrer Zeitgenossen hatten sie ein enorm breit gefächertes Wissen."


"Gott kennt die zukünftigen kontingenten Dinge richtig, d.h. durch etwas wirklich Sicheres", so Thomas Bradwardine in "Über die Verteidigung Gottes gegen Pelagius und das Wirken der Ursachen" (I,18) (Foto: Thomas Bradwardine. Arithmetica speculativa. Paris: Guy Marchant, February 1495-96./ Übersetzung von E.A. Lukacs)



Forschungsstation Wien


Edit Anna Lukács, gebürtige Ungarin, studierte Philosophie, Romanistik und Germanistik an der ELTE in Budapest und an der Sorbonne in Paris. Nach ihrer Dissertation forschte und lehrte sie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin, war "Visiting Scholar" an der University of Oxford und kam 2011 nach Wien. Seit April 2014 ist sie an der Universität Wien und beschäftigt sich mit der Oxforder Theologie – ihr Projekt wird vom FWF im Rahmen des Elise-Richter-Programms finanziert. "Im Moment reise ich viel, spüre Quellen auf und sichte eine Fülle an Material – und werde hoffentlich bald auch an der Universität Wien lehren können", freut sich Lukács. Sie plant, die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit nach Projektabschluss auch in Buchform zu veröffentlichen. (hm)  

Das FWF-Projekt "Oxforder Theologie des 14. Jahrhunderts an der Universität Wien" unter der Leitung von Dr. Edit Anna Lukács vom Institut für Geschichte und dem Institut für Österreichische Geschichtsforschung wird im Rahmen des Elise-Richter-Programms des FWF gefördert und läuft von 2014 bis 2018.