Otto Neurath: Die politische Seite eines Universalgenies

Der österreichische Philosoph Otto Neurath gilt als Universalgenie mit vielseitiger Begabung. Der Politikwissenschafter Günther Sandner legt nun eine umfassende intellektuelle und politische Biografie Neuraths vor, die auch seine bedeutende politische Rolle aufzeigt.

"Otto Neurath ist von der politikwissenschaftlichen Forschung lange Zeit vernachlässigt worden", bedauert Günther Sandner vom Institut für Politikwissenschaft. Obwohl das wissenschaftliche Interesse an Werk und Wirken des Intellektuellen seit den 1970er Jahren auch international gewachsen ist und zu einer ganzen Reihe entsprechender Publikationen geführt hat, gibt es bis heute keine intellektuelle und politische Biografie Neuraths. Mit seinem aktuellen FWF-Projekt schließt Sandner diese Lücke und ermöglicht so erstmals einen Einblick, der neben dem "Wissenschafter Neurath" auch den "politischen Menschen Neurath" erfasst.

Wer war Otto Neurath?

"Zunächst einmal macht es sein vielseitiges Werk schwer, ihn einer Wissenschaftsdisziplin allein zuzuordnen", so Sandner. Im Laufe seines ereignisreichen Lebens war Neurath als Soziologe, Ökonom, Bildpädagoge sowie als Philosoph tätig. Bekannt geworden ist er aber vor allem als Initiator und Organisator des Wiener Kreises, Leiter des Zentralwirtschaftsamtes in München und Gründer des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien.

Als Sozialist flüchtete er 1934 vor dem Austrofaschismus nach Holland, wo er das Mundaneum Museum in Den Haag leitete. 1940 musste er vor den anrückenden deutschen Truppen weiter nach England fliehen, woraufhin er in Oxford das Isotype Institute gründete. Bis zu seinem Tod im Dezember 1945 blieb Neurath im englischen Exil.

Völlig neue Erkenntnisse

"Meine Neurath-Biografie zeigt, dass die politische Bedeutung dieser Figur, an der sich so viele Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schneiden, weitaus größer ist als bisher angenommen wurde", fasst Sandner seine Forschungsergebnisse zusammen. Diese Erkenntnis lässt sich dem Politikwissenschafter zufolge aus einer ganzen Fülle von Beobachtungen ableiten, die im Zuge der Beschäftigung mit der Biografie des österreichischen Philosophen gesammelt werden konnten: "So habe ich zahlreiche Dokumente und unveröffentlichte Schriften analysiert, die ein völlig neues Licht auf die Figur Neuraths – vor allem auch auf seine Jugend – werfen: Neurath war schon als Student massiv in politische Debatten involviert."


Otto Neurath (Bildmitte mit Hut) umringt von Studierenden der Arbeiterhochschule, wo er um 1930 regelmäßig unterrichtete. (Foto: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung).



Die aufwändige biografische Spurensuche, die Sandner in den vergangenen drei Jahren nicht nur in den Archiven der Österreichischen Nationalbibliothek, sondern auch in den entsprechenden Nachlässen in der britischen Universitätsstadt Reading und dem Wiener Kreis Archiv im holländischen Harlem (nahe Amsterdam) betrieben hat, brachte ein weiteres interessantes Resultat zu Tage: Die einzelnen Werkteile Neuraths weisen einen sehr engen inhaltlichen Zusammenhang auf. "Es gab nicht einerseits den Ökonomen und andererseits den Bildpädagogen Neurath. Gerade soziale und politische Inhalte wie etwa die Orientierung an Lebensqualität und Glück der Menschen verbinden die unterschiedlichen Teile seines Werkes. In meiner Biografie wird dies klar ersichtlich."

Aktueller Bezug

Neuraths Werk sei nach wie vor aktuell und darum auch derzeit so gefragt, sagt Sandner: "So ist er etwa schon damals dafür eingetreten, die Lehre der Ökonomie von den abstrakten Kategorien der wirtschaftlichen Kalkulationen wegzubringen und den Fokus stattdessen auf die Lebensqualität der Menschen zu lenken. Dabei ging es ihm aber nicht nur um materielle Dinge, sondern allgemein um eine Demokratisierung des Wissens – insbesondere des Zugangs zu Bildung und Kultur. Auch der Versuch, gesellschaftliche Probleme stets aus einem fächerübergreifenden Blickwinkel zu sehen, ist ein Ansatz Neuraths, der gerade in unserer modernen Wissenschaftskultur wieder sehr populär geworden ist."


Dieser Artikel erschien im Forschungsnewsletter Dezember 2011
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Buchveröffentlichung im Herbst 2013


Wer nun auf den Geschmack gekommen ist, sich selbst ein Bild von der intellektuellen und politischen Seite Otto Neuraths zu machen, wird sich freuen zu hören, dass die wesentlichsten Erkenntnisse und Ergebnisse aus Sandners FWF-Projekt im Herbst 2013 als Buch im Zsolnay Verlag erscheinen werden. Auch eine Übersetzung ins Englische ist geplant. (ms)

Das FWF-Projekt "Otto Neurath – Eine intellektuelle und politische Biographie" von Mag. Dr. Günther Sandner vom Institut für Politikwissenschaft läuft vom 1. September 2008 bis zum 31. Dezember 2011. Als Kooperationspartner fungiert das Institut Wiener Kreis