Ötzi-Forschung: Das Erbe der Steinzeit-Bakterien

Bei der DNA-Analyse eines 5.300 Jahre alten Bakteriums aus dem Magen der Gletschermumie Ötzi haben ForscherInnen rund um Dmitrij Turaev und Thomas Rattei von der Universität Wien eine überraschende Entdeckung gemacht. Und eines der Rätsel um die Besiedlungsgeschichte Europas gelöst.

Noch ist die Erforschung von Steinzeit-Bakterien kein eigenständiges Fach, aber Thomas Rattei hat schon einen Namen dafür parat: Paläomikrobiologie. International steckt dieses neue Forschungsgebiet zwar in den Kinderschuhen, kann aber bereits beeindruckende Ergebnisse sehen lassen – nicht zuletzt durch die Arbeiten von Rattei, Dmitrij Turaev und ihren KollegInnen am Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung der Universität Wien.
 
Aktuell ist es den beiden Bioinformatikern in einer internationalen Zusammenarbeit gelungen, das Erbgut eines 5.300 Jahre alten Exemplars des Krankheitserregers Helicobacter pylori zu rekonstruieren. Es ist der bis dato älteste bekannte Vertreter dieses Bakteriums – entdeckt haben ihn die ForscherInnen im Magen der berühmtesten und besterhaltenen Mumie aus der Steinzeit: Ötzi.

Was Ötzis Magenbakterium über die Besiedlung Europas verrät

Besonders überraschend – und mit weitreichenden Folgen für ein ganz anderes Fachgebiet, nämlich die Ur- und Frühgeschichte Europas – war der Vergleich der Steinzeit-DNA von Ötzis Helicobacter pylori mit ihrem heutigen Pendant. Während fast alle derzeit in Europa vorkommenden Stämme des Magenbakteriums eine Mischung aus Erbgut afrikanischen und Erbgut asiatischen Ursprungs aufweisen, fanden Rattei und Turaev beim Ötzi-Bakterium nur den asiatischen Anteil.

"Wie Europa besiedelt wurde, ist noch immer nicht bewiesen, es gibt dazu viele verschiedene Theorien und wissenschaftliche Auseinandersetzungen", erklärt der Bioinformatiker Rattei, der am Department die Abteilung Computational Systems Biology leitet. Zumindest eines dieser Rätsel scheint durch Ötzis Magenbakterium nun gelöst: Frühe Einwanderer aus Asien haben bei der Besiedlung Europas eine zentrale Rolle gespielt, und der Hauptteil der afrikanischen Bevölkerungskomponente muss erst nach Ötzis Lebenszeit, also in den letzten 5.000 Jahren, eingewandert sein.

Durch die Mumifizierung ist Ötzi noch gut erhalten. Seinen Magen hat man aber erst 2008 an unerwarteter Stelle gefunden – durch neue radiologische Daten. "Unsere Arbeit ist eine faszinierende Spurensuche: Das Erbgut von H. pylori war in kleinste Teile zerfallen und bereits chemisch verändert", so Rattei: "Mit Daten aus einer speziell entwickelten Anreicherungsmethode ist es uns schließlich gelungen, über 90% des Genoms zu rekonstruieren." (Foto: Samadelli Marco/EURAC)

Eine 100.000 Jahre alte Anpassungsgeschichte

Helicobacter pylori ist auch im Zusammenhang mit der Evolution von Bakterien und ihrer Anpassung an den Menschen besonders interessant: Der Krankheitserreger begleitet uns schon seit etwa 100.000 Jahren. Rund die Hälfte der Weltbevölkerung ist damit infiziert und gibt ihn von Generation zu Generation weiter – die meisten von uns merken das aber gar nicht, da nur bei wenigen Symptome auftreten.

Ötzi hat vermutlich an einer Magenentzündung gelitten, soviel Rückschlüsse lassen die im Projekt gemessenen Proteine zu. Ob er von seinem H. pylori auch Magengeschwüre o.a. bekommen hat, kann man heute nicht mehr feststellen: Zu wenig ist von seinem Magen erhalten. Für Thomas Rattei und Dmitrij Turaev sind die Genomdaten aus Ötzis Magen jedenfalls "ein Schatz". Endlich ist es ihnen möglich, die lange Geschichte des Zusammenlebens von Mensch und Bakterium mit "echten" Daten aus der Vergangenheit zu rekonstruieren, anstatt sie nur mit Computermodellen "zurückzurechnen".

Die aktuelle Studie ist das Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit: Entnommen wurden die DNA-Proben durch die EURAC in Bozen (Ötzi ist hermetisch abgeschirmt und nur sehr selten finden Probennahmen statt). Sequenziert wurden sie am Institut für Klinische Molekularbiologie der Universität Kiel. Was schließlich auf dem Schreibtisch – oder vielmehr Desktop – der Bioinformatiker am Standort Althanstraße der Universität Wien landet, sind Computerdaten. (Foto: Universität Wien)

Von der Paläomikrobiologie zur Klimaforschung

"Wir wollen verstehen, wie sich Bakterien an den Menschen anpassen, wie schnell sie sich anpassen und mithilfe welcher 'molekularen Waffen'", so Dmitrij Turaev: "Genau das sind nämlich die Kernmechanismen, die wir mit neuen Medikamenten gezielt angreifen könnten – zum Beispiel in Zusammenhang mit Antibiotikaresistenz".

Die Prinzipien, die sie durch die Arbeiten an Ötzi lernen, wollen die WissenschafterInnen der Universität Wien auch in andere Bereiche der Mikrobiologie und Ökologie übertragen, wie etwa die Klimaforschung – "um zum Beispiel auch die bakterielle Zusammensetzung in Permafrostböden früherer Zeiten besser verstehen und damit in weiterer Folge voraussagen zu können, wie sich die Ökosysteme der Welt durch den Klimawandel verändern", blickt Thomas Rattei in die Zukunft.

Die Themen werden ihnen jedenfalls nicht so schnell ausgehen, denn auch die Spuren von bakteriellem Erbgut in den DNA-Proben vom Mann aus dem Eis reichen wohl noch für einige Jahre paläomikrobiologischer Forschung. (br)

Die Publikation "The 5,300-year-old Helicobacter pylori genome of the Iceman" (AutorInnen: Frank Maixner, Ben Krause-Kyora, Dmitrij Turaev, Alexander Herbig, Michael R. Hoopmann, Janice L. Hallows, Ulrike Kusebauch, Eduard Egarter Vigl, Peter Malfertheiner, Francis Megraud, Niall O’Sullivan, Giovanna Cipollini, Valentina Coia, Marco Samadelli, Lars Engstrand, Bodo Linz, Robert L. Moritz, Rudolf Grimm, Johannes Krause, Almut Nebel, Yoshan Moodley, Thomas Rattei, Albert Zink) erschien am 7. Jänner 2015 im Journal "Science".